Der 11. Juli 2023 wartete mit einem Phänomen auf, das in der Gewitterklimatologie Mitteleuropas bisher kaum auftrat: Ein mesoskaliger konvektiver Komplex, das grösste Gewittersystem überhaupt, entstand über Ostfrankreich und zog in der Folge über die Schweiz, Süddeutschland, Österreich und Norditalien hinweg. Wir betrachten hier die synoptische Lage, die zur Entstehung dieses Komplexes beitrugen und erklären die Klassifikation dieses Gewittertyps etwas genauer.
Für die Klassifikation eines mesoskaligen konvektiven Komplexes (MCC) müssen folgende Bedingungen erfüllt sein (Kriterien nach MADDOX R.A., 1980):
• Die Wolkenoberfläche weist eine Temperatur von weniger als -52 °C auf, wobei diese Fläche des aktivsten Teils des Gewitters mindestens 50’000 km² erreicht,
• die Gipfel der sich ausdehnenden Cumulonimben weisen Temperaturen unter -32 °C auf, diese Fläche muss mindestens 100’000 km² umfassen, das Verhältnis Länge zu Breite dieser Fläche darf 0.7 nicht unterschreiten,
• die oben erwähnten Kriterien müssen für mindestens sechs Stunden erfüllt sein.
Noch in meiner Maturaarbeit von 2003 (Kapitel 2.5.3) schrieb ich: “MCC treten in unseren Breiten eher selten in Erscheinung, in Europa kommen sie in Ausnahmefällen in Mittelmeerländern vor.” Erreichte ein MCC (in der Regel bereits in abgeschwächter Form) Mitteleuropa, handelte es sich um Systeme, die ihren Ursprung in Nordspanien hatten, zur Zeit der höchsten Wassertemperatur des Mittelmeeres im Spätsommer. Tempi passati, inzwischen entstehen sie im Juli direkt über uns. Den Zusammenhang mit der Klimaerhitzung und den aktuell rekordhohen Wassertemperaturen des Nordatlantiks (siehe Gewittervorschau vom 06.07.2023) beweisen zu wollen, würde den Rahmen dieses Blogs mehr als sprengen, die Vermutung in den Raum zu stellen sei aber erlaubt…
Zum Vergleich der oben aufgeführten Mindestanforderungen für ein MCC hier die am 11.07.2023 erreichten Ausmasse:
• Die Tiefsttemperatur der Wolkenoberfläche betrug im aktivsten Teil über Ostfrankreich (nordwestlich von Lyon) -76 °C, die Fläche mit weniger als -52 °C betrug 180’000 km²,
• die Gesamtfläche der Temperaturen unter -32 °C umfasste mehr als 200’000 km², das Verhältnis Länge zu Breite dieser Fläche war nahezu 1:1,
• die oben erwähnten Kriterien waren für sieben Stunden erfüllt.
Hier ein Bild (leider konnte ich keine Legende zur Farbskalierung finden) zur Zeit der grössten Ausdehnung des Komplexes:

Die Energie der Luftmasse reichte sogar aus, um auf der Rückseite des MCC über Ostfrankreich ein neues MCS (mesoskaliges konvektives System, der kleine Bruder des MCC) entstehen zu lassen. Ein dritter Cluster entsteht gerade nördlich der Pyrenäen, er überquerte die Schweiz am nächsten Morgen zwischen 4 und 8 Uhr MESZ. Sehr schön zu sehen ist auch die für solch riesige Cluster typische Positionierung in der einheitlich heissen Luftmasse – die Kaltfront liegt noch weit im Westen (als grünes Band zu erkennen).
Charakteristisch für ein MCC ist auch die Vielzahl verschiedener Unwetter-Begleiterscheinungen. Während der Lebensdauer des Komplexes übernehmen immer wieder neue lokale Systeme die Leaderrolle, wobei Superzellen (mit Grosshagel und Tornados), blitzintensive und vor allem mit Starkregen und kleinkörnigem Hagel auftretende Multizellen sowie Squall-Lines und sogar Derechos auftreten können. Hier die Schadenmeldungen, welche dieses System hinterlassen hat (Quelle: European Severe Weather Database Klick in die Grafik öffnet grössere Version):
Derechos sind eine spezielle Ausprägung grossräumiger Böenfronten. Für ihre Klassifizierung müssen schwere Sturmböen von mindestens 90 km/h auf einer bogenförmigen Linie von 650 km Länge auftreten, wobei zusätzlich auch mindestens an mehreren Stellen über ihre ganze Länge verteilt Orkanböen über 120 km/h auftreten sollen. Entgegen den Meldungen auf diversen einschlägigen Seiten, wonach der MCC auch ein Derecho aufwies, wurde dieses strenge amerikanische Kriterium der Mindestlänge nicht erreicht, wobei man festhalten muss, dass die Kleinräumigkeit Westeuropas dies auch kaum zulässt. So oder so war das Ausmass für unsere Verhältnisse extrem aussergewöhnlich, wenn nicht sogar bisher einmalig.
Besonders in der Westschweiz wurden Stimmen laut, die höchste Warnstufe sei angesichts dessen, was dann schlussendlich passiert sei, völlig übertrieben gewesen. In der Tat gab es aus dieser Region kaum Hagelmeldungen und auch die schweren Sturmböen blieben bis auf wenige lokale Ausnahmen aus. Man hatte hier einfach das Glück, dass ein paar (weitgehend erfolglose) Versuche von Zellbildungen über dem Jura bereits ein wenig Energie aus dem System nahmen, bzw. im Verlauf des Abends erst auf ihrem Weg in die östlichen Teile der Schweiz ihre volle Stärke entfalteten, während die wirklich heftigen Entwicklungen aus Frankreich bereits etwas abgeschwächt in der Westschweiz eintrafen:
Man stelle sich vor, die vorlaufenden Entwicklungen über dem Jura und in der Genferseeregion wären ausgeblieben und das System aus Westen wäre auf eine noch intakte, voll geladene Luftmasse getroffen – man mag sich das besser nicht ausmalen…
Betrachten wir noch die synoptische Konstellation, welche diese aussergewöhnliche Entwicklung ermöglichte (Klick ins Bild öffnet grössere Version):
Die vorherrschende Grosswetterlage vom 10.-13.07.2023 war Südwest zyklonal (SWZ), wobei die Einzelbetrachtung dieses Tages auch starke Ähnlichkeiten zur nahe verwandten GWL Trog Westeuropa (TRW) aufweist – beide GWL sind im Sommer seit der Jahrtausendwende stark in Zunahme begriffen und für ihr enormes Unwetterpotenzial berüchtigt.
Die Achse eines Höhenrückens hat soeben die Schweiz ostwärts verlassen, auf der Vorderseite eines austrogenden Tiefs über Westeuropa wird heisse Luft aus Spanien nach Mitteleuropa geführt, wobei diese unter dem Höhenrücken (Absinken) und bei voller Einstrahlung bodennah weiter aufgeheizt wird. Die Höchsttemperatur an diesem Tag beträgt in Genf 37.4, am Flughafen Zürich 36.5 und im leicht föhnigen Chur gar 37.6 Grad. Der sonst schwache Jetstream (es handelt sich hierbei um den Subtropenjet! – der Polarfrontjet ist nur rudimentär über dem Nordmeer zu erkennen) zieht etwas stärker über Nordwesteuropa, auf seiner rechten Seite befindet sich ein Gebiet mit extremer Höhendivergenz – genau dort, wo sich der MCC bildet. Unterstützt wird sie am Boden durch Konvergenz von Westwind und Südwind über dem südlichen Zentralfrankreich (Umströmen der Pyrenäen). Zusammen mit der hoch energetischen Luftmasse ist dies ein besonders giftiger Cocktail. Dieses Beispiel zeigt, dass die Entwicklung heftiger Gewittersysteme auch ohne Fronten oder Höhenkaltluft möglich ist, wenn alle anderen Zutaten in ausreichender Menge vorhanden sind. Mit der Zunahme der Erwärmung werden solche Giftcocktails – Erhitzung der Landmasse, Erwärmung der Meere und somit auch mehr Verdunstung, also Energieeintrag in die Atmosphäre durch Feuchtigkeit – weiter zunehmen. Den letzten Blogbeitrag hatte ich mit dem Satz eingeleitet: “Unser jahrzehntelang trainiertes Lehrbuchwissen wird gerade ziemlich herausgefordert – wir müssen anfangen, bisher Undenkbares zu denken.” Die Schlagzahl der Ereignisse, welche diese These stützen, wird Jahr für Jahr erhöht.
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Microwave am 13. Juli 2023 um 19:40 Uhr
Hoi Fabienne, danke für die Fallanalyse.
Endlich geht/ging wieder mal was.
Ja, das System war schon ganz anständig. Für das gesamte Radarbild vom metradar bin ich (glaubs etwa um 20:30) auf (70k Blitze)/(30 min) gekommen, davon hat der Komplex vielleicht (50k Blitze)/(30 min) geliefert.
Gerne noch mehr davon 🙂
Grüsse – Microwave