Der Alptraum der Meteorologen und gleichzeitig grösste Aufsteiger aller Grosswetterlagen in den letzten 20 Jahren zu allen Jahreszeiten, aber insbesondere im Sommer heisst „Südwest, über Mitteleuropa überwiegend zyklonal“. Vom Aussenseiter zur Top-5-GWL in kürzester Zeit, geht da alles mit rechten Dingen zu? Ein Porträt.
Beschreibung
Zwischen hohem Luftdruck über der Ukraine mit einem Ausläufer zum Mittelmeer und nach Nordafrika sowie tiefem Druck über dem mittleren Nordatlantik bis Irland verläuft eine nordostwärts gerichtete Frontalzone vom Seegebiet nördlich der Azoren über den Kanal und die südliche Nordsee bis ins Baltikum. Randtiefs wandern über die Biskaya, die Britischen Inseln und Skandinavien zum Eismeer. Ihre Fronten beeinflussen Mitteleuropa nachhaltig. An der Südostflanke eines Grönlandhochs beherrscht eine kalte Nordostströmung den größten Teil des Nordmeeres und den Nordatlantik.
Zuordnung
Grosswettertyp (GWT): Südwest
Zirkulationsform (ZF): gemischt
Klimaregime: nicht eindeutig und teilweise jahreszeitenabhängig; je nach Position des Tiefs und Stärke des Grönlandhochs NAO- oder NAO+
Verwandte GWL: in zyklonaler Richtung: West zyklonal WZ, Trog Westeuropa TRW; in antizyklonaler Richtung: Südwest antizyklonal SWA
Statistik
häufigstes Auftreten im Zeitraum 2001-2023: August 11.22 %, Oktober 10.80 %
häufigstes Auftreten im Zeitraum 1881-2008: Oktober 4.61 %
seltenstes Auftreten im Zeitraum 2001-2023: Februar 1.69 %
seltenstes Auftreten im Zeitraum 1881-2008: Juni 1.38 %
Häufigkeit Gesamtjahr im Zeitraum 2001-2023: 5.89 %, Veränderung gegenüber 1881-2008: +3.27 Prozentpunkte
Rang Häufigkeit aller GWL: 1881-2008 Rang 14, 2001-2023 Rang 5 (Rangverschiebung: +9)
längste ununterbrochene GWL SWZ: 12 Tage vom 15. bis 26. Mai 1994 und vom 14. bis 25. April 2000
häufigste Nachfolge-GWL 1881-1997: 1.: West zyklonal WZ 24.3 % / 2.: Hoch Mitteleuropa HM 7.0 % / 3.: West antizyklonal WA 6.4 %
häufigste Nachfolge-GWL 1971-2022: 1.: West zyklonal WZ 21.4 % / 2.: Hochdruckbrücke Mitteleuropa BM 12.7 % / 3.: Trog Mitteleuropa TRM 8.7 %
seltenste Nachfolge-GWL 1881-1997: Hoch Fennoskandien zyklonal HFZ, Nordost antizyklonal NEA, Hoch Nordmeer zyklonal HNZ, Südost zyklonal SEZ je 0.3 %
folgt auf GWL 1971-2022: 1.: West zyklonal WZ 17.3 % / 2.: Südwest antizyklonal SWA 11.6 % / 3.: Unbestimmt U 8.1 %
Südwest zyklonal ist jene Grosswetterlage, die seit der Jahrtausendwende am stärksten zugenommen hat. Dies insbesondere in den Sommermonaten, aber auch im Spätherbst. Einzig die Monate Januar und Februar weisen einen geringfügigen Rückgang auf. Interessanterweise entzieht sich mit dem September ausgerechnet derjenige Monat weitgehend dem Trend, den August und Oktober am stärksten aufweisen: Hier muss noch etwas Ursachenforschung betrieben werden.
In der tagesgenauen Auflösung sticht hervor, dass die Zunahme in den Sommermonaten zum Teil geballt stattfindet. So fällt etwa der Peak vom 17. bis 22. August ins Auge, das Ende des Hochsommers bzw. der Hundstage geht also häufig mit dieser Wetterlage einher. Ebenfalls erhöht ist die Wahrscheinlichkeit einer zyklonalen Südwestlage vom 20. bis 27. Oktober sowie vom 14. bis 16. November. Die in der vorherigen Klimanormperiode noch vorhandenen Singularitäten Ende Januar und Anfang Mai sind in den letzten 30 Jahren hingegen fast verschwunden. Apropos Singularität: Das Weihnachtstauwetter für ganz Mitteleuropa ist hier deutlich zu erkennen. Traf es 1961-90 noch häufig genau auf Weihnachten, ist es – zumindest auf diese Wetterlage bezogen – jetzt ein paar Tage davor zu verorten. Zu Weihnachten und in der Altjahrswoche wird SWZ oft von der südlichen Westlage abgelöst.
Von null bis 43 Tagen im Jahr ist die Schwankungsbreite des Auftretens von Südwest zyklonal recht gross. Auffällig ist das sehr geringe Auftreten von 1987 bis 1997, gefolgt von einem sehr starken Anstieg im darauf folgenden Jahrzehnt. Seither ist der Trend wieder leicht sinkend, offenbar zugunsten der antizyklonalen Variante SWA. Die Zeitspanne ist aber zu kurz für eine abschliessende Prognose für die Zukunft.
Witterung
Generell feucht-warm, je weiter nach Osten, umso trockener. Schleifende und wellende Fronten können tagelang die immer gleichen Regionen beregnen oder mit Gewittern „beglücken“. Dank der starken Durchmischung nahe am Tief greift Föhn im Warmsektor oft weit ins Alpenvorland aus und kann für jahreszeitliche Wärmerekorde sorgen.
Frühling: wärmer als normal. Niederschlag übernormal (Ausnahme: Föhngebiete am östlichen Alpennordrand).
Sommer: wärmer als normal (im Westen niedrigeres Tagesmaximum). Niederschlag tendenziell übernormal, besonders entlang der prädestinierten Gewitterzugbahnen (z.B. Voralpen-, Jura- und Schwarzwald-Albschiene).
Herbst und Winter: wärmer als normal. Niederschlag übernormal ausser im südöstlichen Mitteleuropa.
Typische Beispiele
Sommer (Klick ins Bild öffnet grössere Ansicht):
Das Schreckgespenst der Prognostiker, in den letzten Jahren im Sommer immer häufiger auftretend. Die Druckunterschiede zwischen dem Tief nordwestlich von uns und dem Subtropenhoch sind gering, der Jetstream sommerlich schwach ausgeprägt aber dennoch ausreichend, um die Polarfront in Gang zu halten. Schleifende Fronten knapp nordwestlich der Schweiz oder in die Südwestströmung eingelagerte, in den Karten kaum sichtbare Kurzwellentrögli erschweren die Prognose enorm. Zünglein an der Waage, ob es für Gewitterauslösung reicht oder nicht, spielen oft kleinräumige, durch die Orographie verursachte Verwirbelungen oder föhnige Effekte. Dabei ist die Luftmasse derart energiereich, dass zwischen „es passiert nix“ und „die Welt geht unter“ nur wenig Spielraum besteht.
Frühling:
Anfang Mai sind die Tiefdruckgebiete aufgrund des ausgeprägten Temperaturgradienten zwischen dem noch kalten Atlantik und dem sich stark erwärmenden Kontinent stärker. Ein auf dem Atlantik weit nach Süden ausgreifender und starker Jetstream zielt aus Südwesten genau auf Mitteleuropa. Aufgrund des starken Tiefs dreht der Wind in den unteren Luftschichten vorübergehend auf Süd bis sogar Südost und beschert den Alpen einen kurzen, aber kräftigen Föhnsturm. Dabei werden heisse Luftmassen und Saharastaub nach Westeuropa verfrachtet. Die nachfolgende schleifende Kaltfront sorgt für sintflutartigen Dauerregen mit einer Schneefallgrenze um 3000 m, die nach einer bereits seit einer Woche nassen Vorgeschichte Flüsse und Seen im Berner Oberland und in der Westschweiz auf Rekordniveau steigen lassen.
Markante Wettererscheinungen, Unwetterpotenzial
Klassisch ist Südwest zyklonal eine Wetterlage der Übergangsjahreszeiten. Föhnstürme in den Alpen und Starkregen vor allem in der Westschweiz, dem Jura entlang bis in die Nordschweiz, im Schwarzwald sowie auf der Alpensüdseite sind Ergebnisse dieser Wetterlage. Dabei ist im Frühling Hochwasser durch Eintrag zusätzlicher Schneeschmelze bei sehr hoher Schneefallgrenze in den Alpen die grösste Gefahr (Mai 2015, aber auch als Vorgeschichte des Pfingsthochwassers 1999, dessen Fass dann allerdings eine zyklonale Südostlage SEZ endgültig zum Überlaufen brachte, sowie Mai 1994). Mit der besonders seit 2004 immer häufiger auch im Sommer auftretenden zyklonalen Südwestlage hat sich eine zusätzliche Wetterlage mit hohem Potenzial für Grosshagel, Sturzfluten und Downbursts zur verwandten GWL Trog Westeuropa hinzugesellt. Im Winter löst SWZ immer häufiger West zyklonal WZ als klassisches Weihnachtstauwetter ab (2020, 2013, 2012, 2010, 2009), auch hier mit Regen und Schneeschmelze teils über 2000 m hinauf.
Auswirkungen auf den Vogelzug
Bei Südwest zyklonal wird im Herbst ein verstärkter Zug von Schwalben festgestellt. Dieser könnte trügerisch sein, denn vermutlich steigt nur die Beobachtungsrate aufgrund des bodennaheren Zugs, um dem starken Gegenwind in grösserer Höhe auszuweichen. Ausgelöst wird dieser Zug durch die sich verschlechternde Nahrungslage aufgrund zunehmender Niederschläge. Sonst wird SWZ im Herbstzug gemieden. Im Frühling ist die Datenlage weniger gut, vermutlich werden aber niederschlagsfreie, föhnige Tage vor allem zu Beginn einer GWL Südwest zyklonal für die Alpenquerung genutzt, so lange auf der Alpensüdseite noch gute Sichtverhältnisse herrschen.
Grundlagen:
Katalog der Großwetterlagen Europas (1881-2009) nach Paul Hess und Helmut Brezowsky
Statistik der Grosswetterlagen aufgeschlüsselt nach Monat und Gesamtjahr im Zeitraum 2001-2020
Wulf Gatter: Vogelzug und Vogelbestände in Mitteleuropa, erschienen im Aula-Verlag, 2000
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