Unser jahrzehntelang trainiertes Lehrbuchwissen wird gerade ziemlich herausgefordert – wir müssen anfangen, bisher Undenkbares zu denken. Rekordhohe Wassertemperaturen weltweit und vor allem für uns relevant im Nordatlantik, ein Sommerorkan über der Nordsee mit teilweise tropischen Eigenschaften, eine antizyklonale Südlage im Juli. Nichts ist mehr normal, die Wettermodelle drehen am Rad und die Fachfrau staunt sich Tag für Tag ein Loch in den Bildschirm. Sommer 2023, der nächste Akt.
Bevor wir uns mit der Prognose für das kommende Wochenende befassen, müssen wir noch kurz auf das Geschehen vom Mittwoch zurückblicken, denn das Eine hängt sehr wohl mit dem Anderen zusammen. Was in der Siebenschläferprognose noch georakelt und in der Monatsprognose für den Juli konkretisiert wurde, bestätigt sich jetzt durch einen höchst spannenden Wetterablauf, der gemäss der Siebenschläfer-Regel wohl prägend sein dürfte für die Charakteristik dieses Hochsommers: West- und Süd(west)lagen wechseln sich ab, mässig warme bis (vor allem im Norden) kühle und trübe, windige Phasen werden durch kurze, aber heftige Hitzwellen unterbrochen – man kann dies auch Achterbahnsommer nennen.
Der Mittwoch, 05.07.2023 wird vor allem in den Niederlanden in die Wetter-Geschichtsbücher eingehen, sollte aber auch bei allen Wetterinteressierten in Mitteleuropa im Gedächtnis bleiben: Mit Spitzenböen bis zu 148 km/h direkt an der Küste vor Amsterdam und einem Mittelwind im orkanartigen Bereich über volle zwei Stunden handelt es sich um den stärksten Sommersturm seit über 50 Jahren (die Daten weiter zurück sind zu lückenhaft, bzw. das weniger dichte Messnetz lässt eine klare Aussage diesbezüglich nicht zu). Mehrere Meteorologinnen und Meteorologen verschiedener Institute (darunter meine Wenigkeit) kamen unabhängig voneinander zum Schluss, dass die rekordhohen Wassertemperaturen im Nordatlantik und speziell in der Nordsee massgeblich zur Stärke dieses Sturms beigetragen haben. Wer fachlich einigermassen auf der Höhe ist, für den ist bestimmt der Blog des Kollegen Felix Welzenbach lesenswert. Auch um das zukünftige Wettergeschehen und die nachfolgende Prognose besser zu verstehen, sei hier die aussergewöhnliche Situation visualisiert:
Die globale Wassertemperatur zwischen 60 Grad Nord und 60 Grad Süd befindet sich aktuell um 0.2 Grad über dem bisherigen Rekord von 2016. Klingt nach wenig, ist aber ein gewaltiger Sprung, wenn man mit den Werten der letzten 40 Jahre vergleicht:
Der Blick auf die Karte mit den tiefroten Gewässern rund um Europa macht klar, dass unsere Wetterküche einen nicht unwesentlichen Anteil daran hat. Egal, welcher Grosswettertyp bei uns gerade Regie führt, immer werden Luftmassen zu uns gelangen, die entweder aus bereits überwärmten Gebieten stammen oder – wie im Fall vom Mittwoch – zwar kalten Ursprungs sind, aber auf sehr warmem Wasser und im Kontakt mit Luftmassen südlicher Herkunft aufgrund grosser Temperaturunterschiede heftige Zyklogenese in Gang setzen.
Wenden wir uns also dem zu, was diese Ausgangslage für die kommenden Tage bedeutet:
Die Zufuhr kalter Luftmassen aus Ostgrönland westlich an Island vorbei auf den brühwarmen Nordatlantik hinaus hat bereits das nächste kräftige Tiefdruckgebiet geboren. Weil es vorerst mal dort draussen sitzen bleibt und auf seiner Vorderseite heisse Luft nach Mitteleuropa verfrachtet, ist auch mal eine antizyklonale Südlage (SA) im Juli möglich. Gab es seit 1881 genau zwei Mal im Juli: 1941 und 1994. Wie im Lehrbuch sieht diese GWL nicht aus, kann man zu solch ungewohnter Jahreszeit auch nicht erwarten, aber für die naheliegendste Alternative (Hoch Mitteleuropa) ist der Höhenrücken und vor allem das Bodenhoch zu schwach ausgeprägt. Womit wir bereits beim Thema wären: Wirklich stabil ist diese Lage nicht, dafür ist die Luft viel zu energiereich und die Sonneneinstrahlung macht aus den vielerorts trockenen Böden eine Herdplatte. Ob da der Deckel wirklich immer und überall hält, darf ruhig in Frage gestellt werden, denn wenn die Modelle eines nicht können, dann ist es Morgenkonvektion. Allerdings rechnen die Globalmodelle und inzwischen auch die mässig aufgelösten Mesomodelle eine solche Störung schon seit einigen Tagen immer wieder für den Samstagmorgen, also muss wohl etwas dran sein:
Ob es sich hierbei um echte Morgenkonvektion handelt, die vor Ort entsteht, oder ob da ein alternder Gewittercluster bereits aus dem Freitagabend und Frankreich her reinsuppt, darüber sind sich die Modelle (noch) nicht einig. Etwas mühsam für alle Freiluftveranstaltungen, die bereits Freitagnacht in vollem Gange sind. Da bleibt nur der Rat, alle verfügbaren Prognosen regelmässig zeitnah zu konsultieren und das Radar ab Freitagabend im Blick zu behalten, um zu sehen was sich da im Westen zusammenbraut. Auch am Samstagnachmittag und -abend ist die Lage noch zu wenig stabil, um vereinzelte, lokale, aber durchaus heftige Entwicklungen nicht ausschliessen zu können. Nach aktuellem Stand müsste sich solches Geschehen aber auf das Bergland beschränken.
Der stabilste Tag scheint der Sonntag zu werden – allerdings auch der heisseste. Nach den EZ-Ensembles liegt der wahrscheinlichste Bereich der Höchsttemperatur für Basel zwischen 32 und 35 Grad, ich tippe mal auf den oberen Bereich. Etwas gar hoch gegriffen scheinen mir die 37 Grad für Basel und bis zu 39 Grad im Oberrheingraben von GFS:
Doch wer weiss schon, was 2023 alles möglich ist? Die Hitze ist nicht importiert, da die Herkunft der Luftmasse nicht mal weit südlich liegt, es handelt sich hierbei um hausgemachte Erhitzung durch Absinken im Hoch und extreme Sonneneinstrahlung. Wie hoch die Temperatur wirklich steigt, ist von lokalen Gegebenheiten abhängig: Sonnenscheindauer, Wind und vor allem Bodenfeuchte werden darüber entscheiden. Letztes Jahr hatten wir schon mal extrem überschätzte Temperaturspitzen bei einer ähnlichen Lage aufgrund falscher Bodenfeuchte-Annahme im Modell, möglicherweise scheint dies auch jetzt der Fall zu sein. Obwohl der stabilste Tag, kann auch am Sonntag nicht ganz ausgeschlossen werden, dass hier und da ein Ventil aufgeht und ein lokales Hitzegewitter in die Höhe schiesst. So verbreitet nass wie von diesem Modell gezeigt wird es bestimmt nicht, aber nur schon dass solches gerechnet wird, muss einen vorsichtig werden lassen:
Jedenfalls darf die wiederholte Ansage der Gebührenmeteorologie hinterfragt werden, dass die Gewitterneigung erst ab Montag, Dienstag oder sogar erst Mittwoch langsam (sic!) zunimmt. Ein Blick in die Ensembles ist da hilfreich:
Bis Sonntag stehen die Chancen, dass es trocken bleibt, etwa 50/50. Dies gilt hier fürs Flachland, will heissen abgeschwemmte Gewitter aus den Bergen können hier und da für Überraschungen sorgen, im Bergland selber ist das Risiko höher – nicht an einem bestimmten Ort, aber auf die Gesamtfläche gesehen. Ab Montag driften die Modelle derart weit auseinander, dass jegliche Aussage schon sehr gewagt wirkt. Das lässt sich nicht nur an der Niederschlagswahrscheinlichkeit ablesen, sondern auch an der zunehmenden Streuung der Temperatur. Klar ist, dass an einer Kaltfront mit heftigen Gewittern mit Unwetterpotenzial gerechnet werden muss, egal an welchem Tag sie kommt. Am wahrscheinlichsten ist aus heutiger Sicht der Bereich zwischen Montagabend und Dienstagabend. Die dadurch eingeleitete Abkühlung dürfte nur in den gemässigten Sommerbereich gehen, wir sind dann erneut in einer Westlage, auch gut zu erkennen an der Windrichtung des Ensembles von Basel. Mehrere Modelle basteln in der Folge an der nächsten Austrogung und Winddrehung auf Südwest bis Süd und somit der nächsten Hitzewelle – der Zeitpunkt dafür ist allerdings noch völlig offen, wie die starke Streuung der Temperatur in den Ensembles zeigt. Eins scheint aber klar: Langweilig dürfte dieser Hochsommer kaum werden…
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