Mehr Hitzetage, mehr Sonnenschein, mehr Dauertrübnis, mehr Trockenheit, mehr Niederschlag, mehr Hochwasser, mehr Schnee in den Hochalpen, mehr Stürme – die auf Rekorden im Jahr 2023 basierende Aufzählung könnte noch verlängert werden und zeigt das zunehmende Paradoxon unseres neuen Klimas. Extreme in wechselnden Perioden werden zur Normalität, es vergeht kaum mehr ein Monat ohne Rekorde in irgend eine Richtung – mit Ausnahme von Kälte. Auch der Dezember hat diesbezüglich wieder geliefert: Wenn auch nicht in der Fläche, aber durchaus regional gab es Niederschlagsrekorde und die höchsten jemals gemessenen Schneehöhen für Dezember, auch in langen Messreihen wie z.B. in München. Hinzu kam der wärmste 24. Dezember seit Messbeginn auf der Alpensüdseite mit bis zu 22 Grad. Wie verrückt 2023 war, zeigt die Jahresbilanz am Schluss dieses Beitrags.
Die fotometeo.ch/orniwetter.info-Langfristprognose für den Dezember, erstellt am 1. Dezember, lautete wie folgt:
Der unserer Prognose zugrunde liegende Lauf rechnet mit einer enormen positiven Druckanomalie vom Kanadischen Archipel über das europäische Nordmeer und Skandinavien hinweg bis nach Mittelsibirien, wobei das Zentrum über Nordskandinavien zu liegen kommt. Südlich daran anschliessend folgt eine negative Druckanomalie mit Zentrum knapp südwestlich der Britischen Inseln, das sich über ganz West- und Südeuropa erstreckt. Die daraus folgenden häufigsten Wetterlagen sind südliche Westlage, winkelförmige Westlage, Tief Britische Inseln, Tief Mitteleuropa sowie allfällige zyklonale Ostlagen und somit sämtliche Schweinereien, welche das “gemässigte Klima” Mitteleuropas auf Lager hat. Das seit Mitte Oktober vorherrschende, extrem tiefdruckbestimmte Wetter geht also in die Verlängerung.
Die Kälteanomalie in Skandinavien und Nordwestrussland wird zwar im Lauf des Monats allmählich abgebaut, das im ersten, sehr kalten Monatsdrittel aufgelaufene Minus kann aber bei weitem nicht wettgemacht werden. Eine leicht negative Abweichung ist auch auf dem zentralen Nordatlantik auszumachen – die einzige Stelle weit und breit, wo das Wasser derzeit kühler ist als im langjährigen Schnitt. Teils deutlich wärmer als normal wird der gesamte Mittelmeerraum, aber auch weite Teile der Arktis. Die enormen Temperaturunterschiede zwischen diesen Anomalien sind der Motor für die stetige Tiefdruckbildung. In Mitteleuropa wird sich wahrscheinlich ein deutliches Südwest-Nordost-Gefälle manifestieren, wobei die Grenze zwischen positiver und negativer Abweichung zur Klimanorm zum jetzigen Zeitpunkt völlig unprognostizierbar ist. Wahrscheinlich sind immer wieder hin- und her pendelnde, relativ scharfe Luftmassengrenzen und somit eine Schneefallgrenze auf Achterbahnfahrt. Auf das Weihnachtstauwetter ist allerdings Verlass – fragt sich nur, ob es kurz vor Weihnachten einsetzt oder schon eine Woche oder gar zwei Wochen früher.
Bei mehrheitlich südlicher Zugbahn der Tiefs sind deutlich überdurchschnittliche Niederschläge an den Westküsten Süd- und Westeuropas vorprogrammiert, insbesondere in Portugal/Galizien, in der Bretagne und am Westbalkan. Auch die West- und Südalpen müssen mit deutlich mehr Schnee rechnen als üblich. Auf der Alpennordseite wird die Sache sehr unsicher, da der Anteil an südlichen Anströmungen und somit Föhneffekte nicht klar ersichtlich ist. Nahezu trocken bei häufigem Ostföhn bleibt es an der norwegischen Atlantikküste – ein Geheimtipp für alle, welche die aufgrund der aktuell hohen Sonnensturmaktivität erhöhten Chancen auf Polarlichter nutzen möchten.
Vergleich der Prognose (oben) mit der Analyse (unten) der Abweichungen des Bodendrucks gegenüber dem langjährigen Mittel:
Der Hochdruck über dem Nordmeer und Nordskandinavien war weniger ausdauernd als modelliert, sodass die erwartete Tiefdruckaktivität nach Osten rutschen konnte: Statt über den Britischen Inseln lag das Zentrum über dem Baltikum. Das Grundmuster mit den relativ südlichen Tiefdruckgebieten wurde jedoch richtig erfasst. Das Azorenhoch war stärker als erwartet und konnte sich für einige Tage sogar bis nach Mitteleuropa ausweiten. Die prognostizierten Westlagen sassen alle mit am Tisch, dominant war jedoch West zyklonal und statt Tief Britische Inseln bis Mitteleuropa trat durch die östlichere Tiefposition Nordwest zyklonal auf den Plan.
Die Abweichung der Monatsmitteltemperatur 2 Meter über Boden zur Klimanormperiode 1991-2020 (oben Prognose, unten Analyse):
Die Verifikation der Temperaturprognose fällt besser aus als es die Druckverteilung erwarten liesse: Die Verteilung mit sehr warmer Arktis, kaltem Nordeuropa und warmem Südeuropa sowie ein relativ kühlem Nordatlantik wurde gut getroffen. Der kalte Fleck in Südfrankreich beruht wie schon seit Monaten auf einem Datenfehler. Der einzige Bereich mit schlechter Temperaturprognose ist Grönland bis Island, hier wirkte sich die östlichere Tiefdrucktätigkeit am stärksten aus. Eindrücklich ist die Verteilung von warm und kalt bei der Ansicht auf den Nordpol. Wir haben es hier mit einem typischen WACC-Muster zu tun (warm arctic, cold continents), allerdings widersetzt sich Nordamerika der Einwinterung und so findet die atlantische Tiefdruckproduktion nicht wie üblich vor Neufundland, sondern eben bei Skandinavien statt.
Abweichung des Monatsniederschlags gegenüber der Klimanorm 1981-2010 (oben Prognose, unten Analyse):
Mehr Hochdruckeinfluss aus Südwesten hat bewirkt, dass die Niederschlagsschwerpunkte in West- und Mitteleuropa allgemein etwas nördlicher zu liegen kamen, vor allem blieben aber auch die meisten Regionen Südeuropas trockener als erwartet. Die Verteilung in den Alpen und den Mittelgebirgen ist wie immer deutlich komplexer als auf obiger Karte dargestellt: Schweiz, Österreich, Deutschland.
Die ersten zwei Tage Nordost zyklonal, danach gab’s nur noch West und Nordwest. Nach drei bis vier kalten Tagen zu Monatsbeginn war Schluss mit Winter, 17 Tage bilanzierten deutlich über der jahreszeitlichen Norm. Das Weihnachtstauwetter begann bereits am 5./6. Dezember und zog bis zum Schluss gnadenlos durch. Immerhin sorgte ein kräftiges Hoch in Form von West antizyklonal erstmals nach über zwei Monaten wieder mal für ein paar trockene Tage am Stück.
Die Langfristprognose für den Januar findet man auf unserer Partnerseite orniwetter.info, sie wird zu Beginn des nächsten Monats in diesem Blog verifiziert.
Jahresbilanz 2023
Statt der durch den Datenfehler in Frankreich verhunzten Bodenkarte behelfen wir uns mit der Luftmassentemperatur in rund 1500 m Höhe, um die Abweichung des Gesamtjahres vom langjährigen Mittel zu verdeutlichen. Man sieht, dass es kalte Luftmassen zunehemend schwer haben, und so verwundert es nicht, dass der DWD im deutschen Flächenmittel das wärmste Jahr seit Messbeginn meldet, und zwar gleich um 0.11 Grad über dem erst ein Jahr alten Rekord. In Österreich war es im Tiefland das wärmste Jahr zusammen mit 2018, und in der Schweiz nur knapp hinter dem Vorjahresrekordhalter das zweitwärmste, wobei einige Stationen (darunter Bern, Basel und Altdorf) das wärmste Jahr vermelden. In der Schweiz und in Österreich sind es die Bergstationen, welche den Schnitt etwas runterziehen.
Wie schon im Vorjahr schenkten vor allem Herbst- und Dezemberniederschläge in Mitteleuropa gewaltig ein, aber auch März, April und August waren streckenweise sehr nass. Trotzdem kam es bei der Vegetation im Juni und September bis erste Oktoberhälfte zu Trockenstress, weil dann zu den fehlenden Niederschlägen auch noch Hitze dazu kam. Im Gesamtjahr war es verbreitet deutlich zu nass, mit einigen regionalen Ausnahmen. Leider verhunzt auch hier ein Datenfehler in Bayern die Karte, denn nicht dort war es relativ am trockensten, sondern rund um den Schwarzwald (Feldberg 73 %, Müllheim 78 % der Norm 1961-90). Die nassesten Regionen sind hingegen korrekt dargestellt: In Deutschland waren dies vor allem der Nordwesten bis hin zur nördlichen Mittelgebirgsschwelle und in Österreich der äusserste Osten. Die komplexe Verteilung in der Schweiz sieht man sich am besten hier an. Beim Blick über den Tellerrand fällt vor allem auf, dass auch jene Gebiete in Südeuropa, welche im Sommer durch verheerende Hitzewellen und Waldbrände Schlagzeile machten, überdurchschnittlich gewässert wurden – nur eben leider zur falschen Zeit und auch zu viel aufs Mal.
Diese Ungleichverteilung der Niederschläge übers Jahr gesehen zeigt sich auch bei der Verteilung zwischen trockenen und nassen Tagen. Bei warm/kalt sieht die Verteilung wenig überraschend fast gleich aus wie im Vorjahr, waren doch beide Jahre auch bei der Durchschnittstemperatur etwa gleichauf. Bei der GWT-Verteilung liegen die Südwestlagen genau im Mittel der letzten 23 Jahre und setzten somit ihren Trend fort. Nord- und Ostlagen haben ziemlich genau die Rollen getauscht, Hoch und Süd waren etwas schwächer vertreten als im Schnitt der letzten 23 Jahre. Deutlich zugelegt haben Nordwest (Norm 9.8 %) und vor allem West (Norm 23.3 %). Wie schon im Vorjahr hatten wir also ein überdurchschnittliches Westlagen-Vorkommen, das an die Hoch-Zeiten in den 90er Jahren erinnert. Der Rückgang der Westlagen seit dem Milleniumswechsel wurde ja oft damit begründet, dass die Temperaturdifferenz zwischen Arktis und gemässigten Breiten durch die gewaltige Erwärmung der Polregion abnimmt und dies die Tiefdruckentwicklung im Westwindgürtel schwächt. Nun haben wir eine neue Situation: Die nordeuropäischen Landmassen sind vor allem im Winterhalbjahr nach wie vor kalt, während die Subtropen massiv zu warm sind – es entstehen also neue starke Temperaturgefälle zwischen gemässigten Breiten und Subtropen, welche die Tiefdruckproduktion ankurbeln – oft auf etwas südlicher Zugbahn, was die neuerliche Zunahme von West zyklonal und südlicher Westlage in den letzten Jahren erklärt. Der Tiefdruckgürtel und die Westwindzone sehen in der gemittelten Bodendruckkarte auch ganz gesund aus…:
… die Südverlagerung wird jedoch in der Analyse der Abweichung zur Klimanorm deutlich:
Dies steht im Widerspruch zur Annahme in den letzten Jahren, dass vor allem das südliche Mitteleuropa häufiger unter dem Einfluss des Subtropenhochs steht, was durch die zunehmend langen Trockenphasen und Hitzewellen belegt ist. Nun, auch dieser Trend wurde paradoxerweise 2023 nicht gebrochen, im Gegenteil:
Das 500 hPa Geopotenzial lag nämlich auch im vergangenen Jahr über Südwesteuropa deutlich höher als normal und strahlte über die Alpen hinweg aus. Tieferer Luftdruck am Boden ist durchaus eine Folge von höheren Temperaturen in den unteren Luftschichten, während mehr Wärme in der Höhe das Geopotenzial anhebt. In der Bilanz der Labilität gleicht sich das mehr oder weniger aus – blöd nur, dass beides eben nicht gleichzeitig geschieht, sonst hätten wir gleiches Wetter wie früher, aber etwa 1-2 Grad wärmer. So wie sich das jetzt entwickelt, haben wir jedoch lange tiefdruckbestimmte, nasse Phasen, die sich mit langen hochdruckbestimmten, trockenen Phasen abwechseln. Eine gewaltige Herausforderung für Natur und Landwirtschaft.
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Microwave am 4. Januar 2024 um 14:37 Uhr
Hoi Fabienne, danke für diesen ausführlichen Jahresrückblick!
Grüsse – Microwave
kurt nadler am 6. Januar 2024 um 11:57 Uhr
zum dezember noch – der äußerste osten österreichs weicht ja doch klimatisch immer wieder ab: ad „Das Weihnachtstauwetter begann bereits am 5./6. Dezember und zog bis zum Schluss gnadenlos durch.“
wir hatten tiefwinterliche bedingungen ab 2.12., die winterperiode mit nur unmarkanten plusgraden zog sich jedoch inversionsbedingt bis zum 11.dezember. Auch danach erfolgte die erwärmung vorerst nur zäh.
markant:
1.) außergewöhnlicher starkfrost am morgen des 4.12., etwa im mittelgebirge nordösterreichs -25,4 grad oder privat bei mir in breitenbrunn am neusiedler see kälteres morgenminimum als in beiden vorangegangenen wintern.
2.) die seit spätherbst fortgesetzten und immer größeren hochwässer hier im osten, die an der donau bei hainburg am 25.12. kulminierten – aus meiner boebachtung ein 5jrg. ereignis, statistisch glaub ich 2-jrg., an der leitha am 27., aus eigener beobachtung ca. 10-jährig (1. großes nach juni 2013), statistisch ebenfalls viel weniger, am thaya-marchsystem etwa am 29./30.12.
kurt nadler am 6. Januar 2024 um 12:17 Uhr
zum jahr 2023 – aus pannonischer sicht vom ostrand österreichs:
die 13 grad jahresmittel wurden heuer „erstmals“ überschritten (es gibt natürlich noch wärmere stationen), mediterranoides klima übernimmt immer mehr.
eisenstadt/burgenland: https://www.zamg.ac.at/cms/de/klima/klima-aktuell/klimamonitoring/?station=7704¶m=t&period=period-y-2023&ref=1
wien: https://www.zamg.ac.at/cms/de/klima/klima-aktuell/klimamonitoring/?station=5904¶m=t&period=period-y-2023&ref=1
Die Station Hollern an der Leitha https://www.noe.gv.at/wasserstand/#/de/Messstellen/Details/116350/Niederschlag/Jahr bildet gut den Niederschlags-Jahresgang für dieses Jahr ab: Die 3 Trocken- bis Dürreperioden waren angesichts des hohen Temperatur- und Verdunstungspotenzials genauso markant wie die niederschlagsreiche Periode gegen Jahresende.
Bis zum Herbst hatten sich die Wasserstände Neusiedler See und Seewinkellacken nur sehr eingeschränkt erholen können, bis dahin blieb auch der St. Andräer Zicksee, ehedem beliebtes Bade- und Eislaufgewässer, ausgetrocknet und hatte sich flächig bewachsen – siehe http://forum.flora-austria.at/viewtopic.php?f=38&t=3885&p=23426&hilit=Zicksee#p23416.
Zum Jahresende wird sich da einiges gebessert haben; das Grundwasser in der Ostregion hat nun endlich massiv angezogen.
Fabienne Muriset am 7. Januar 2024 um 02:11 Uhr
Danke Kurt für die ergänzenden Informationen und die Dokumentation über die Lacken. Der Seewinkel wird wohl nie mehr so sein wie ich ihn in Erinnerung habe…