Jahreszeitenprognosen sind in der Regel schwierig, denn ein Zeitraum von drei Monaten kann viele Unwägbarkeiten bringen, voller Überraschungen stecken. Es gibt allerdings eine Ausnahme, sofern man nicht den Anspruch erhebt, den genauen Verlauf der Witterung vorhersagen zu wollen, sondern wenn man sich auf allgemeine Trends beschränkt: Ein NAO-Plus-Winter, also ein Winter mit starker positiver Nordatlantischer Oszillation, in dem fast durchgängig Westwindlagen das Sagen haben, kündigt sich bereits im Spätherbst an und zieht sein Ding in der Regel durch. Einen solchen Winter haben wir hinter uns, und es lohnt sich durchaus, sich ein paar Aspekte daraus näher anzuschauen.
Beginnen wir mit der allgemeinen Charakteristik dieses Winters 2019/20: Das Diagramm mit den Witterungstypen verrät uns, dass sich trockene und nasse Tage fast die Waage hielten. Ganz anders sieht es temperaturtechnisch aus: Deutlich zu kalte Tage gab es keine (Null), während mit 38 deutlich zu milden Tagen mehr als ein Drittel des Winters als entweder noch herbstlich oder bereits frühlingshaft bezeichnet werden durfte. Nun ist es keineswegs so, dass die restlichen zwei Drittel, also die “normalen” Tage, auch alle tatsächlich winterlich waren: Sie bewegten sich zwar innerhalb der Standardabweichung, waren jedoch ebenfalls zum grössten Teil milder als im langjährigen Mittel, wie wir in einem anderen Diagramm noch sehen werden. Das zweite Kreisdiagramm mit den Grosswettertypen zeigt gleich deutlich auf, wo der Hund begraben lag: Westwindlagen machten wie prognostiziert mehr als die Hälfte des Winters aus, und besonders wichtig für die Verifikation unserer Prognose von Ende November: Südwest und Süd zusammen waren mit 21 % deutlich stärker vertreten als Nordwest und Nord mit 8 %. Ostlagen blieben völlig aus, es bleibt einzig noch ein beachtlicher Teil Hochdrucklagen stehen. Sämtliche Kriterien eines lehrbuchmässigen NAO-Plus-Winters wurden hiermit erfüllt.
Wenden wir uns dem Verlauf dieser Jahreszeit zu. Folgendes Diagramm von MeteoSchweiz zeigt eindrücklich, wie wenig Winter tatsächlich in diesem Winter steckte:
Hier wird ersichtlich, wie schief die Verteilung der “normalen” Tage innerhalb der Standardabweichung (Bereich zwischen den gestrichelten Linien) tatsächlich war. Es gibt nur wenige Tage unter dem langjährigen Mittel (blau) Anfang Dezember, zum Jahreswechsel und um den 20. Januar herum, kein einziger davon erreichte auch nur annähernd das Kriterium “deutlich zu kalt”. Hingegen wurden Ende Januar und dann mehrmals im Februar neue Rekorde erreicht mit Tagesmitteln um 10-12 Grad, was einem normalen Tag in der zweiten Aprilhälfte entspricht. Mit Zürich / Fluntern haben wir eine für das südliche Mitteleuropa repräsentative Station an leicht erhöhter städtischer Lage ausgesucht. Hier fehlt der Effekt eines Kaltluftsees in Muldenlagen weitgehend, andersrum gibt es etliche Stationen mit Westföhneffekt wie z.B. Luzern, welche Spitzen des Tagesmittelwertes um 15 Grad oder gar darüber (typische inneralpine Föhnstationen Mitte Dezember) aufweisen.
Aussergewöhnlich an diesem Winter war, dass es zu keiner Zeit auch nur ansatzweise eine wirklich tiefwinterliche Witterungsphase gab. Frühere Mildwinter waren entweder eingequetscht zwischen kalten Novembern und kalten Märzen oder wiesen zumindest irgendwo mittendrin mal eine kalte Woche auf. Im Winter 2019/20: Fehlanzeige! Zu verdanken hatten wird dies auch dem Umstand, dass der stratosphärische Polarwirbel keine Schwäche zeigte:
Dargestellt wird hier der mittlere Westwind rund um den Erdball auf 65° nördlicher Breite in rund 30 km Höhe. In dieser Höhe werden erste Signale für ein sogenanntes Sudden Stratosphere Warmung (SSW) detektiert, das sich im Winter sehr rasch in tiefere Luftschichten vorarbeiten und die Westwinddrift auch am Boden zusammenbrechen lassen kann, letztmals eindrücklich geschehen im Februar/März 2018. Eine Zonalwindumkehr würde Ostwind bedeuten, im Diagramm sinkt dann der Wert unter Null. Wir sehen, dass eine solche Voraussetzung in dieser Saison zu keiner Zeit gegeben war, im Gegenteil: Im Februar erreichte die Stärke des Polarwirbels sogar Rekordwerte. Das wiederum verstärkte den Jetstream und hatte die zahlreichen heftigen Stürme zur Folge. So gesehen erstaunt es nicht, dass Ostlagen in diesem Winter keine Chance hatten und ein stetiger Nachschub an milder Atlantikluft bis tief in den eurasischen Kontinent hinein gewährleistet war. Wie wir noch sehen werden, wurde die höchste Wärmeanomalie denn auch weit im Osten erreicht, wo in normalen Wintern nur selten atlantische Luftmassen hingelangen können.
Das führt uns zu einem Aspekt, der durchaus auch Auswirkungen auf den Frühling hat, wie wir zuletzt Ende März bis Anfang April gesehen haben, wo der Winter zumindest noch mal ein letztes Lebenszeichen zu geben versuchte. Ein starker, kompakter Polarwirbel sorgt dafür, dass es im Winter kaum Kaltluftausbrüche in die gemässigten Breiten gibt. Die Kaltluft bleibt quasi in der Arktis gefangen und kühlt immer weiter aus. Starke NAO-Plus-Winter sind also eigentlich gute Winter für die Regeneration des arktischen Meereises – also zumindest waren sie das früher. Vergleichen wir doch mal die Situation während einer ähnlichen Phase im Februar (in Europa Grosswetterlage West zyklonal) 2020 mit jener im ebenfalls milden Kernwinter 1925. Auch damals war der Januar überwiegend hochdruckbestimmt (Grosswetterlage Hoch Mitteleuropa) mit nachfolgend starker Westlage im Februar. Die Monate Januar/Februar 1925 wiesen gegenüber der Klimanorm 1961-90 eine Abweichung von +2.99/+3.25 Grad auf (das war sehr aussergewöhnlich zu jener Zeit), 2020 waren es +3.98/+4.90 (deutsches Flächenmittel nach DWD).
Der direkte Vergleich zeigt uns eine nahezu identische Zirkulationsform mit kompaktem Polarwirbel und den zwei sehr starken Tiefdruckzentren über dem Nordatlantik und bei den Aleuten. Auch in Europa war die Wetterlage sehr ähnlich mit starkem Transport von warmen Luftmassen auf der Vorderseite des Tiefdruckkomplexes bis weit nach Osteuropa hinein. Besonders interessant ist der Vergleich der Lufttemperatur in 850 hPa: Vor fast 100 Jahren war die arktische Luftmasse flächig kälter als -20 Grad, auch die Bereiche kälter als -25 Grad sind viel grösser als 2020. Kaum einen Unterschied gibt es jedoch bezüglich der maximalen Kälte: Die Zentren der Kaltluftpools weisen auch heute noch Tiefstwerte unter -30 Grad auf, sind allerdings wesentlich kleiner. Fazit: Es gibt heute in konzentrierter Form zwar immer noch sehr kalte Luft in der Arktis, aber deutlich weniger davon. Um auf die Auswirkungen auf den Frühling zurückzukommen: Sobald der Polarwirbel und somit auch der Westwindgürtel zusammenbricht und die Luftmassen nach Süden ausbrechen können, treten in den gemässigten Breiten wie z.B. in Mitteleuropa nach solchen Wintern mitunter die kältesten Phasen des Winterhalbjahres auf – so geschehen Ende März 2020. Auch 1925 und nach anderen früheren Mildwintern war das häufig der Fall, mit einem kleinen Unterschied: Da viel mehr extrem kalte Arktisluft vorhanden war, dauerte dieser Austauschprozess viel länger: So erstreckten sich diese Kaltlluftausbrüche nach Europa nicht nur über wenige Tage bis maximal eine Woche wie heute, sondern hatten ganze deutlich unterkühlte Monate zur Folge (März 2020: +1.77, März 1925: -2.21 Grad Abweichung zur Klimanorm 1961-90, deutsches Flächenmittel nach DWD). Für die nach einem Mildwinter bereits weit fortgeschrittene Vegetation macht das allerdings keinen Unterschied: Eine einzige scharfe Frostnacht reicht aus, um zum Beispiel die Obstblüte markant zu schädigen. Das Phänomen von erfrierenden Blüten wird daher auch im Zuge der Klimaerwärmung nicht so schnell verschwinden, ganz im Gegenteil: Durch die Zunahme sehr milder Winter bei gleichbleibender Wahrscheinlichkeit von Kälterückfällen im Frühling wird diese Problematik zunehmend verschärft.
Abschliessend wollen wir uns noch der Verifikation unserer Winterprognose zuwenden (oben Prognose, unten Analyse):
Zunächst darf man festhalten: Die unterdurchschnittlich temperierten Bereiche auf dem Nordatlantik und bei Spitzbergen wurden vom Prognosemodell gut erfasst, ebenso die geographische Ausdehnung der zu milden Bereiche. Das dicke Aber bleibt jedoch nicht aus: Zwar wurde der Mildwinter tendenziell richtig erkannt, nicht jedoch in seinem Ausmass. Abweichungen in Nordosteuropa über den Gesamtzeitraum von drei Monaten von bis zu sieben (!) Grad gegenüber der Periode 1981-2010 wohlverstanden kann kein Langfristmodell (und auch keine Meteorologin) auf dem Schirm haben, weil schlicht der Erfahrungshorizont für solche Extremereignisse fehlt. Dieses Phänomen begegnet uns auch immer wieder bei unseren Monatsprognosen: Trends richtig zu erkennen klappt meistens ganz gut, Rekorde vorherzusagen ist hingegen nahezu unmöglich. Man kann sie erahnen, aber aufgrund eines Bauchgefühls eine Rekordprognose herauszugeben, wäre unseriös. Denn auch heute noch gilt: Seltenes ist selten, Häufiges ist häufig. Und dass sie selten sind, haben Extremereignisse nun mal so an sich. Die Takterhöhung ebendieser muss allerdings zu denken geben…
Vergleichen wir auch noch die Niederschläge (oben Prognose, unten Analyse):
Abgesehen vom nassen Fleck im östlichen Mittelmeer kann man hier von einem Volltreffer sprechen. Sogar die Föhneffekte, verursacht durch den beständigen Westwind, wurden für die Leegebiete gut prognostiziert: So trafen die trockeneren Inseln östlich von Schottland und in Südschweden genau so ein wie die Trockenheit auf der Alpensüdseite.
Halten wir doch noch mal die wichtigsten Punkte unserer Winterprognose vom 20. November fest (die ganze Prognose kann man hier nachlesen):
Das vom Modell gezeigte Wassertemperaturmuster entspricht voll und ganz jenem eines lehrbuchmässigen Winters mit deutlich positiver NAO. Vom Atlantik her ist also viel Druck zu erwarten, die Westströmung dürfte demzufolge über weite Strecken die Witterung in Europa bestimmen … Subtropische Luftmassen werden häufiger Europa erreichen als polare … Ostlagen dürften in diesem Winter selten auftreten, ein weiteres Indiz für einen milden und auch eher feuchten Winter. Entsprechend wird auch die stärkste Temperaturabweichung für den Norden Europas gerechnet … Die Zeichen stehen allesamt auf einen deutlich zu milden, im Alpenraum durchschnittlich nassen Winter, wobei die Alpen wahrscheinlich eine Wetterscheide zwischen trockenem Süden und eher feuchtem Norden bilden. Nachhaltige Schneelagen in den Niederungen sind bei dieser Konstellation nicht zu erwarten.
Wieso ist uns diese Verifikation so wichtig? Nun: Nach der Veröffentlichung dieser Prognose erreichten uns Kommentare eines anderen Meteorologen auf Facebook wie dieser hier: Offenbar verbietet Euch der Anstand nicht, Überschriften zu verfassen, die versprechen, was nicht gehalten wird. “Wir erraten es. Vielleicht.” wäre da deutlich anständiger. Und:“Wir wissen, dass es Käse ist, aber wir machen das wenigstens öffentlich”. Oder: “Im harten Wettkampf um Klicks scheint die Vernunft chancenlos.”
Nun: Unser Anstand verbietet es uns nicht, jede unserer Langfristprognosen – sei es Monats- oder Jahreszeitprognose – öffentlich zu verifizieren. Und zwar sowohl gelungene wie versemmelte Prognosen. Kritische und sachdienliche Einwände von Berufskollegen werden gerne entgegengenommen – vorausgesetzt, sie lesen mehr als nur die Überschrift. Und: Auf den missionarischen Eifer derjenigen, die Langfrisprognosen per se als Scharlatanerie abtun und daher gerne sagen: “Niemand weiss…!”, obwohl sie mangels eigener fundierter Auseinandersetzung mit den Stärken und Schwächen von Langfristmodellen eigentlich sagen müssten: “Ich weiss nicht… (z.B. wie der Winter wird)”, können wir gerne verzichten.
So wird es auf fotometeo.ch und orniwetter.info auch weiterhin Monats- und Jahreszeitprognosen geben. Wenn sie unsicher sind und die Konstellation keinen klar erkennbaren Trend erkennen lässt, dann sagen wir das auch (kann man in früheren Prognosen nachlesen, sie sind alle noch in diesem Blogarchiv vorhanden). Wenn wir keine Konjunktive verwenden, dann nur, wenn eine gewisse Modelleinigkeit und unsere langjährige Erfahrung eine hohe Vertrauenswürdigkeit und Eintreffenswahrscheinlichkeit erwarten lassen. Auf Jahreszeitprognosen für den Frühling und Herbst verzichten wir bewusst, weil wir wissen, dass die Prognosegüte für diese Termine generell deutlich schlechter sind als z.B. für den Winter oder den Hochsommer. Und ja, auch Nachfolgendes ist uns wichtig:
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Thomas am 20. April 2020 um 17:32 Uhr
Einmal mehr ein Beitrag mit interessanten Einblicken, wie man sie sonst kaum bei einem Wetterdienst erhält. Danke.
Frage: Wie gross ist der Einfluss der Bodenfeuchtigkeit bei Frostschäden im Frühjahr? Teilweise wird ja empfohlen, den Boden unter den Bäumen am Vortag einer Frostnacht zu bewässern
Fabienne Muriset am 20. April 2020 um 23:09 Uhr
Ich grüble schon eine Weile was eine solche Massnahme bringen soll, ich komm nicht drauf… Das Besprenkeln der Bäume selbst kann bei leichtem Frost wirksam sein, weil der Prozess des Gefrierens Energie (also Wärme) freisetzt und an die Blüten oder Fruchtstände abgibt. Aber am Boden…? Vielleicht will man durch die Verdunstung Nebelbildung fördern, was die nächtliche Ausstrahlung einschränken könnte – bringt aber bei knochentrockener Luft wie in den letzten Wochen nichts.