“Hohes Überraschungspotenzial” lautete die Schlagzeile in unserer Winterprognose vom 28. November angesichts der noch nie dagewesenen Ausgangslage bezüglich globaler Temperatur im Allgemeinen und sehr hoher Wassertemperaturen im subtropischen Atlantik und im Mittelmeer im Speziellen sowie offensichtlich völlig überforderter Langfristmodelle, die alle etwas anderes auftischten. Keine Überraschung war, dass die winterlichste Phase gleich zu Dezemberbeginn Mitteleuropa heimsuchte und der Winter als Ganzes mal wieder viel zu mild ausfiel. Schon eher überraschend war hingegen das Ausmass dieser Milde bzw. das gänzliche Fehlen von Kälte im Februar in ganz West-, Mittel- und Osteuropa sowie der kuriose Umstand, dass der Winter in Nordeuropa besonders streng war.
Einen schnellen Überblick verschafft uns die Statistik zur Verteilung der Witterungstypen und Grosswettertypen im südlichen Mitteleuropa:
Genau die Hälfte des Winters war von Westlagen geprägt, zusammen mit den im Winter ebenfalls milden Nordwestlagen sowie den Südwest- und Südlagen waren somit in vier Fünfteln des Winters synoptisch bedingt gar keine kalten Phasen möglich. Die dazu notwendigen Nord- und Ostlagen sowie die gradientarmen Hochdrucklagen wurden geradezu marginalisiert. Feucht gewann dementsprechend gegenüber trocken mit 52 zu 39 Tagen. Gerade mal neun Tage konnten (wenn auch meist nur knapp) als kalt eingestuft werden, strengen Frost gab es nur am 3./4. Dezember sowie am 20./21. Januar. Dem gegenüber stehen 54 deutlich zu warme Tage und vom “normalen” Rest war auch das meiste über der Norm 1991-2020, wie der Verlauf der für weite Teile des Flachlands im südlichen Mitteleuropa repräsentativen Station bei Bern zeigt:
Besonders krass waren die Rekordtage um den 24./25. Januar, welche ein Tagesmittel aufwiesen, die der neuen Klimanorm um den 10. Oktober oder Ende April entsprechen – und dabei handelt es sich hierbei nicht mal um eine Föhnstation oder eine besonders windexponierte oder milde Hanglage. Erwähnenswert ist auch die Abfolge von 44 Tagen ohne Unterbrechung über der langjährigen Norm vom 22. Januar bis 5. März. Das Temperaturmittel dieser Periode entspricht knapp einem durchschnittlichen April, was angesichts der doch sehr unterschiedlichen Tageslänge und Intenistät der Sonnenstrahlung zu denken geben sollte. Noch extremer war die Milde in leicht erhöhten Lagen der föhnexponierten Nord- und Ostalpen. Deshalb freut sich unser Bonsai-Trump, dass er auf seinem Bergbauernhof im schwyzerischen Oberiberg vielleicht bald Freilandtomaten und Kiwis anbauen kann – mehr Weitsicht kann von dieser Klientel leider nicht erwartet werden. Schliesslich hat die Armee ja genug Helikopter und finanzielle Mittel *hust, hust*, um das dürstende Sömmerungsvieh auf den Alpen mit Wasser zu versorgen, das im Winter die Niederungen überschwemmt hat, statt als Schnee gebundene Reserven in den Mittelgebirgslagen zu bilden. Affaire à suivre…
Vergleich der Prognose (oben) mit der Analyse (unten) der Abweichungen der 2m-Temperatur des Gesamtwinters (Dez-Feb):
Das einzige Modell, das dem kalten Nordeuropa noch am nähesten kam, war jenes des DWD. Alle anderen Modelle hatten auch ein deutlich zu mildes Nordeuropa im Programm. Natürlich war auch das deutsche Modell für das restliche, insbesondere West-, Mittel- und Osteuropa viel zu kühl aufgestellt (das Loch in Frankreich – bedingt durch einen Datenfehler in der Klimanorm – bitte in der Analyse gedanklich gelb auffüllen). Hier zeigt sich einmal mehr, dass Langfristmodelle keine Rekorde vorhersagen können, sondern nur Trends. Und diesen milden Trend hatten die Platzhirsche EZ und CFS mit einer Abweichung von 1-2 Grad im östlichen Mitteleuropa noch am besten erfasst, leider aber auch Nordosteuropa viel zu mild mit einer Prognose von über +2 Grad Abweichung.
Noch chaotischer war es bei den Niederschlägen (oben Prognose, unten Analyse):
Hier kam die CFS-Prognose der Realität am nächsten, wenngleich die nasse Zone etwas zu weit nördlich gerechnet wurde und das südwestliche Europa zu trocken. Jedoch hatten alle anderen Modelle eine viel zu weit gestreute positive Anomalie gerechnet, insbesondere in Richtung Südosteuropa. Erwähnenswert ist hier der mit Abstand nasseste Winter seit Messbeginn 1881 im Nordwesten Deutschlands: Der bisherige Rekordhalter 1994/95 wurde um weitere rund 10 % überboten (Flächenmittel Niedersachsen, Quelle: DWD), die Gesamtniederschlagssumme lag hier verbreitet bei 200 bis 250 % der Norm 1961-90.
Nun gilt es noch, die synoptische Gesamtlage zu betrachten, um die Kälte in Nordeuropa bei gleichzeitiger Rekordmilde im Rest Europas zu erklären:
Auf dem Kontinent herrschte überwiegend Tiefdruck mit einem Minus von bis zu 5 hPa zum langjährigen Mittel und einem Verhältnis von 58 zu 31 Tagen zugunsten von zyklonalen Grosswetterlagen (bei zwei Tagen unbestimmt). Gleichzeitige Hochdruckanomalie über der Barentssee sorgte für eine wiederholte Zufuhr arktischer Luftmassen aus Ost in Richtung Skandinavien, während die milde atlantische Westströmung Nordeuropa nur selten erreichte und voll über Mitteleuropa nach Osten bretterte. Gleichzeitig ist die Anomalie über dem Atlantik interessant mit Islandhoch und Azorentief (negative nordatlantische Oszillation NAO-). Zwischen diesem und dem Hoch über Nordwestafrika stellte sich häufig eine Südwestströmung ein, die Europa regelmässig mit subtropischen Luftmassen versorgte. Diese sind per Definition wegen ihrer Herkunft ohnehin warm, aufgrund der hohen Wassertemperaraturen im subtropischen Atlantik aber in diesem Winter eben rekordwarm:
Da gleichzeitig der westliche Nordatlantik von der Karibik bis Neufundland eher kühl war, stellte sich ein enormer Temperaturgradient ein, der die Tiefdruckbildung bei den Azoren begünstigte und eben diese warme Südwestströmung in Richtung Europa ermöglichte. Das Islandtief wiederum war geschwächt durch das späte Zufrieren von Hudson Bay und Davisstrasse bzw. ein zu warmes Nordamerika: Kalte Luftströmungen von dort her auf den Nordatlantik sind der Motor der atlantischen Tiefs und somit eines milden Westwindbandes in Richtung Nordeuropa. Wie wir eingangs gesehen haben, waren zwar Westlagen in diesem Winter überdurchschnittlich vertreten. Sie transportierten aber nicht Kaltluft aus Nordamerika, die über dem Nordatlantik auf dem Weg zu uns abgemildert wird, sondern zapften eben die extrem warmen subtropischen Luftmassen an. Ob diese Entwicklung nachhaltig sein wird oder nur eine vorübergehende Laune war, werden die nächsten Jahre zeigen – dieser Winter war aber auf jeden Fall ein Lehrstück dessen, was uns in nächster Zeit öfter bevorstehen dürfte.
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