Der Titel müsste eigentlich lauten: Gründe die dafür sprechen, dass eine Winterprognose 2023/24 nahezu unmöglich ist. In ähnlich gelagerten Fällen habe ich früher auch schon mal komplett darauf verzichtet, mich hier zum Affen zu machen, aber diesmal ist der Reiz dafür ein ganz besonderer: Die Ausgangslage ist global derart speziell bzw. noch nie dagewesen, dass es schon fast wieder dazu herausfordert, sich das mal näher anzuschauen und gedanklich weiterzuspinnen.

Prognose gemittelte Abweichung der Temperatur über die Monate Dez23-Feb24 gegenüber der Periode 1993-2016, Ensemble-Mittel von 8 Langfristmodellen
Wenig überraschend wird der kommende Winter in Europa von allen Langfristmodellen deutlich wärmer als die aktuelle Klimanormperiode gerechnet, allerdings sind die Verteilungen von sehr milden Regionen und solchen, die nur knapp über oder ums Mittel herum geraten sollen, recht unterschiedlich. Wer sich die Berechnungen der einzelnen Modelle im Detail ansehen möchte, kann dies hier tun. Man darf sich allerdings die Frage stellen, wie diese Modelle eine noch nie dagewesene Ausgangssituation mit extrem warmen Meeren insbesondere in den Tropen im Griff haben. Noch unterschiedlicher als die Temperatur wird nämlich die Verteilung der Niederschläge gerechnet, doch dazu später. Was macht die Prognose nebst der globalen Rekordtemperatur so herausfordernd?
Da wäre vor allem El Niño-Southern Oscillation (ENSO) zu erwähnen. Nach der aussergewöhnlich langen La Niña-Phase der letzten Jahre haben wir seit dem Frühling 2023 wieder El Niño, das heisst der tropische Pazifik ist viel wärmer als normal. Das ist allerdings noch eine zu kurze Zeit, um die sehr träge Wirkungskette über den Nordpazifik und Nordatlantik bis nach Europa in Gang zu setzen. Erst in einem Jahr kann diese wieder für eine Prognose herbeigezogen werden – sofern denn die aktuelle El Niño-Phase überhaupt so lange dauert.
Weitere interessante und für unser Winterwetter relevante Konstellationen habe ich in der Karte mit den aktuellen Abweichung der Meerestemperaturen markiert. Richten wir das Augenmerk zunächst auf das aktuelle Tief über Mittel- und Osteuropa. Es hat seinen Ursprung in der in den letzten Jahren im Herbst häufig aufgetretenen Kombination aus sehr kaltem Festland in Skandinavien, zu warmem Nordmeer und deutlich zu hohen Wassertemperaturen im östlichen Mittelmeer und im Schwarzen Meer. Der enorme Temperaturunterschied zwischen dem ausgekühlten und schon ordentlich eingeschneiten Skandinavien und dem warmen Nordmeer setzt hier regelmässige Tiefdruckbildung in Gang. Wegen des schwachen und ausgeleierten Polarfront-Jets trogen diese Tiefs regelmässig aus, sodass Polarluft nach Süden zum Mittelmeer abtropfen kann und dort wiederum auf eine viel zu warme Oberfläche trifft, was weitere Vertiefung des Luftdrucks zur Folge hat. Der Schneesturm in Bulgarien, Rumänien und in der Ukraine vom vergangenen Wochenende mit einem Kerndruck von 969 hPa war für diese Region sehr aussergewöhnlich bzw. rekordverdächtig. Dieses Tief wird unsere Witterung mindestens noch im ersten Dezemberdrittel bestimmen. Die dabei herbeigeführte Polarluft könnte durchaus für die kälteste Phase des Winters verantwortlich sein. Der rege Austausch kalter und warmer Luftmassen (die Gegenbewegung auf der Vorderseite des Tiefs führt warme Mittelmeerluft weit in den Norden) wird allerdings auch irgendwann das Ende dieses Tiefs besiegeln. Die Wassertemperatur nördlich von Skandinavien ist bereits unter das langjährige Mittel gesunken, und auch der permanente Kaltluftstrom aus Norden ins östliche Mittelmeer wird dieses allmählich so weit auskühlen, dass diesem Motor allmählich der Saft ausgehen wird. Erfahrungsgemäss dürfte dies ungefähr Mitte Dezember der Fall sein, und dann werden die Karten neu gemischt, bzw. es kann sich ein blockierendes Hoch über Osteuropa bzw. Russland installieren.
Ab diesem Zeitpunkt wird dann wieder der noch recht inaktive Nordatlantik (derzeit negative nordatlantische Ozillation NAO-) für uns bestimmend, immer vorausgesetzt der Polarwirbel wird nicht durch eine rasche Stratosphärenerwärmung gestört, sodass sibirische Luftmassen nach Europa gelangen können. Bereits jetzt bzw. den ganzen Spätherbst aktiv ist das Gebiet rund um die Azoren. Durch den viel zu warmen subtropischen Atlantik und den von den Herbststürmen ausgekühlten mittleren Nordatlantik entstehen an dieser Stelle mit ausgeprägten Temperaturdifferenzen immer wieder Tiefs, die auf aussergewöhnlich südlicher Zugbahn in Richtung Europa driften, während über der kühleren Fläche im zentralen Nordatlantik Hochdruckgebiete die Westdrift blockieren. Potenzial für Zyklogenese hat allerdings das Gebiet zwischen Grönland und Island. Hier ist das Meer noch vergleichsweise warm, d.h. Kaltluftausbrüche von Kanada und Grönland her führen hier zwangsläufig zu Tiefdruckbildung, die dann allerdings eine für die Jahreszeit ungewöhnlich nördliche Zugbahn einschlagen. Die alles entscheidende Frage ist nun: Welches Gebiet wird aktiver und für den weiteren Verlauf unseres Winterwetters entscheidend sein? Hier liegt ein enormes Überraschungspotenzial bereit und es ist durchaus möglich, dass sich Phasen mit Tiefs auf der nördlichen und der südlichen Zugbahn ablösen. So oder so wird das für uns eine recht nasse Geschichte, wobei die nördliche Zugbahn uns sehr milde (das obligate Weihnachtstauwetter lässt grüssen), die südliche hingegen eher kalte Luftmassen zuführt, dies vor allem im nördlichen Mitteleuropa. Für den Alpenraum und die Alpensüdseite ist das Ergebnis in diesem Fall völlig offen, da man bei südlichen Westlagen nie wissen kann, wo die markante Luftmassengrenze über Mitteleuropa genau zu liegen kommt.

Prognose Niederschlagsanomalie gemittelt über die Monate Dez23-Feb24, Ensemble-Mittel von 8 Langfristmodellen
Das Mittel der acht Langfristmodelle zeigt ein relativ unstrukturiertes nasses Geschmier über fast ganz Europa hinweg. Die Unsicherheit wird deutlich, wenn man sich zwei Extrembeispiele der Einzelmodelle anschaut:
Laut dem amerikanischen Langfristmodell dominiert die nördliche Tiefzugbahn, die Alpensüdseite und der Mittelmeerraum werden demnach mit einem eher zu trockenen Winter rechnen, während vor allem die Westküsten Nordeuropas ordentlich gewässert werden. Dies entspricht hauptsächlich den Grosswetterlagen West zyklonal und West antizyklonal und einer positiven nordatlantischen Oszillation NAO+. Das Langfristmodell des Deutschen Wetterdienstes hingegen bevorzugt die südliche Tiefzugbahn, häufiger GWL südliche Westlage oder sogar zyklonale Ostlagen mit Hochdruckeinfluss von Island bis Skandinavien und sehr nassen Westküsten im Süden Europas (negative nordatlantische Oszillation NAO-). Die anderen Modelle rechnen alle möglichen Varianten dazwischen – welches Schweinderl hätten’S gern?
Man kann in solchen Situationen darauf setzen, dass ECMWF, das als führendes Modell weltweit gilt, den besseren Riecher hat, und da bekommen wir zum Glück nicht nur wie von den anderen Modellen jeweils zum 1. des Monats, sondern mittlerweile täglich die neueste Version serviert – zumindest mal für sechs Wochen, also schon fast die Hälfte des Winters abdeckend. Und dieses Modell meint: CFS mit NAO+ könnte besser liegen als das Modell des DWD:
Hier sieht man schön die noch aktuelle Situation mit dem Tief über Mittel-/Osteuropa (atlantischer Rücken ATR, violett), übergehend in eine NAO- (grün) und dann den Weihnachtstauwetter-Klassiker NAO+ ab etwa dem 10. Dezember, den ich weiterhin so nenne, auch wenn das einigen Erbsenzählern nicht passt, weil Weihnachten erst zwei Wochen später ist. Allerdings hat auch dieses Modell bei den Regimes schon deutlich vor der 6-Wochen-Frist üble Purzelbäume geschlagen, und es würde mich doch sehr erstaunen, wenn dies bei der aktuell extrem komplexen Ausgangslage nicht passieren würde. In diesem Sinne: Uns steht ein sehr spannender Winter bevor!
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