Bereits seit über einem Monat wird allenthalben orakelt, wie der kommende Winter in Mitteleuropa verlaufen soll. Für einen besonders strengen Winter (manche verstiegen sich gar in die Superlative „Jahrtausendwinter“) mussten vor allem Signale aus der Natur herhalten: Ob früh ziehende Zwergschwäne, die Höhe von Königskerzen, die Grösse von Tannenzapfen, der Ertrag der Honigbienen oder die Anzahl Maulwurfshügel – all dies sollen Anzeichen für einen bitterkalten Winter sein. Ganz anders tönt es bei den Wetterdiensten, die ihre Winterprognosen anhand von Langfristmodellen erstellen: Diese zeigen uns permanent einen deutlich zu milden Winter. Für Diskussionen sorgt heuer vor allem das Klimaphänomen El Niño und deren Einfluss auf das Wetter in Europa. Doch dieser ist umstritten, da der Einfluss undeutlich und vor allem für den in diesem Jahr extrem starken El Niño mit zu wenigen Fallzahlen unterlegt ist. fotometeo.ch / orniwetter.info erhebt nicht den Anspruch, eine der umstrittenen, aber bei Medien so beliebten Prognosen über die wochengenauen Witterungsabläufe für eine ganze Saison zu liefern. Vielmehr sollen hier die verschiedenen Einflüsse, deren Wichtigkeit und die daraus resultierenden Trends aufgezeigt werden. Ob sich daraus zumindest ein grober Ablauf festlegen lässt?
1. El Niño und seine Wirkungskette bis nach Europa
Die aktuellen Wassertemperaturen im äquatornahen Pazifik weisen das drittstärkste El Niño-Phänomen seit Beginn der modernen Aufzeichungen aus. Da der Höhepunkt zum Ende des Winters erwartet wird, gehen die Prognosen von einem möglichen Rekord-Ereignis aus. Sehr starke El Niños treten aber so selten auf, dass die Fallzahl für eine belastbare Statistik über den Einfluss auf das europäische Wetter nicht ausreicht. Man kann aber die Fernwirkungskette des El Niño-Phänomens im Allgemeinen aufzeigen. Wir tun dies anhand der aktuellen Weltkarte der Abweichung der Wasseroberflächentemperaturen, auf welche die wichtigsten Einflüsse und die daraus resultierende Kettenreaktion aufgetragen wurden:
Nicht zu übersehen ist die extreme Erwärmung des Pazifiks entlang des Äquators. Die enormen Energieflüsse wirken sich auch auf den Nordpazifik aus, der vor allem in seinem östlichen Teil ebenfalls eine stark positive Abweichung zur Norm aufweist. Die daraus resultierenden Temperaturunterschiede verstärken das Aleutentief, was wiederum eine überdurchschnittliche Westwinddrift über dem Nordpazifik zur Folge hat. Mit dieser werden permanent sehr feuchte (erhöhte Niederschläge an der amerikanischen Westküste) und milde Luftmassen in Richtung Nordamerika transportiert, was die Bildung von Hochdruckgebieten über dem Kontinent begünstigt. Warmluftzufuhr und Hochdruckeinfluss bewirken eine unterdurchschnittliche Schneedecke, was zusätzlich zu einem milden Winter in Nordamerika beiträgt. Kaltluftproduktion über dem Kanadischen Schild und die daraus folgenden Ausbrüche auf den Nordatlantik bei Neufundland sind (wie in den letzten zwei Wintern) der Antrieb für die Westwindzirkulation auf dem Nordatlantik. Fehlen diese Zuströme oder sind sie schwächer, wird das Islandtief weniger stark gefüttert, die Westwindzirkulation über dem Nordatlantik ist unterdurchschnittlich (negative NAO = nordatlantische Oszillation). Stattdessen wird die Bildung von tiefen Trögen begünstigt (schwaches Azorenhoch), an dessen Westflanken Polarluft weit nach Süden vorstossen kann, während als Ausgleich auf der Ostseite aus Südwesten sehr milde Subtropenluft weit in den Norden transportiert wird. Diese Tröge sind zwar im Gegensatz zu den rasch nach Osten driftenden Islandtief-Ausläufer eher träge, müssen sich aber nicht über den ganzen Winter immer an derselben Stelle bilden. Kaltluftausbrüche gehen mal über dem Mittelatlantik nieder, mal nisten sie sich über Westeuropa ein. Entscheidend ist jedoch die Warmluftzufuhr nach Nordeuropa bzw. die dort fehlende Tiefdrucktätigkeit, welche die Bildung von stabilen Skandinavien- bis Nordrusslandhochs begünstigt. Diese wiederum steuern an ihrer Südostflanke sibirische Kaltluft nach Europa. Der europäische Kontinent wird also zur Kampfzone zwischen warmen Südwestwinden und kalten Nordostwinden, mit ungewissem Ausgang für Mitteleuropa.
Man kann die Fernwirkung eines El Niño so zusammenfassen, dass er die NAO schwächt und somit Kältephasen im europäischen Winter begünstigt. Dieser Effekt ist zum Ende des Winters und im Frühling am stärksten. Ist die NAO aber aus anderen Gründen gerade stark, so ist die Wirkung des El Niño eher gering. Womit wir beim nächsten Punkt wären:
2. Wassertemperatur im Nordatlantik und nordatlantische Oszillation (NAO)
Die folgende Karte zeigt die mittlere Abweichung der Wassertemperaturen vom 10. bis 19. November 2015 gegenüber dem langjährigen Mittel 1981-2010:
Auffällig sind die warmen Wasseroberflächen vor der Ostküste Nordamerikas und vor der Westküste Afrikas um die Kanaren und Kapverden sowie die kalten Flächen auf dem zentralen Nordatlantik nördlich der Azoren. Dieses Muster ist typisch für Winter mit positiver NAO, es begünstigt die Bildung von starken Islandtiefs und starken Azorenhochs, zwischen denen eine starke Westströmung herrscht. Die Verteilung der Temperaturanomalien war übrigens bereits im letzten Winter sehr ähnlich, und wir erinnern uns an einen relativ milden und von Westlagen (v.a. Dez./Jan.) geprägten Winter 2014/15 in Europa.
3. Wassertemperaturen rund um Europa
Ebenfalls in obiger Karte sind die positiven Temperaturabweichungen der Meere rund um Europa zu erkennen. Besonders die Ostsee, aber auch Nordsee, Mittelmeer, Schwarzes Meer und der nahe Atlantik weisen Wassertemperaturen auf, die über der jahreszeitlichen Norm liegen. In diesen Meeren ist ein schöner Teil der Energie der vergangenen zwei Warmjahre gespeichert und diese wird im Winter an die untere Atmosphäre abgegeben. Kalte Luftmassen werden also wie schon im letzten Winter auf ihrem Weg zum Kontinent stärker gemildert als ohnehin. Extrem kalte Luftmassen können in diesem Fall nur nach Mitteleuropa gelangen, wenn sie den Landweg nehmen (direkt aus Nordost bis Ost über Russland und Polen).
4. Schnee- und Eisbedeckung in der Arktis und in Nordeurasien
Wie bereits in den vergangenen zwei Wintern weist die aktuelle Ausdehnung der Schneeflächen in Eurasien stark überdurchschnittliche Werte auf. Dies sind gute Voraussetzungen für die Produktion bodennaher Kaltluft in Sibirien und wurden in verschiedenen Studien als ein Indikator für strenge Winter in Europa gedeutet. Wie in den letzten beiden Jahren aufgezeigt wurde, ist die Bedeutung in Wintern mit positiver NAO jedoch vernachlässigbar, da in solchen Wintern diesen Luftmassen den Weg nach Westen versperrt bleibt. Sollte die NAO jedoch geschwächt werden, sind sehr kalte Phasen mit kontinentaler Polarluft durchaus möglich.
Die Karte der aktuellen Eis- und Schneebedeckung:
Ein weiterer Einflussfaktor für kalte und vor allem schneereiche Winter in Europa ist eine eisfreie und somit überdurchschnittlich warme Barentssee. Unter solchen Bedingungen können sich in dieser Region vermehrt Tiefdruckgebiete bilden, die bei günstiger Strömung Polarluft aus Norden, angereichert durch Feuchtigkeit aus der Verdunstung aus der Barentssee, nach Europa lenken. Diesem Umstand hatten wir unter anderem die strengeren Winter 2009 und 2010 zu verdanken. Auch dieser Faktor ist jedoch auf negative NAO angewiesen, um bei uns seine volle Wirkung entfalten zu können.
5. Abnehmende Sonnenflecken-Aktivität
Wir befinden uns derzeit in einer Phase abnehmender Sonnenflecken-Aktivität, wobei die letzte Hochphase vergleichsweise schwach war. Strenge Winter fallen gehäuft in die Phase des schwachen Sonnenflecken-Zyklus, dieser Einflussfaktor spricht aktuell also wieder für zunehmend kältere Winter, ist aber momentan noch eher als neutral einzustufen.
Fazit
Aktuelle Einflussfaktoren für einen kalten Winter 2015/16 sind:
– El Niño-Phase (Einfluss eher gering bzw. nicht zweifelsfrei nachgewiesen)
– Eurasische Schneebedeckung und warme (=eisfreie) Barentssee (Einfluss unter aktuellen Bedingungen eher gering)
Neutrale Einflussfaktoren:
° Sonnenflecken-Zyklus
° Vulkanaktivität der vergangenen zwei Jahre
Einflussfaktoren für einen milden Winter:
+ positive NAO-Phase (starker Einfluss)
+ überdurchschnittliche Wassertemperaturen rund um Europa (zu Beginn starker Einfluss, im Lauf des Winters möglicherweise abnehmend)
+ Klimawandel: globale Temperatur auf Rekordniveau
Zieht man die Schlüsse aus all diesen Voraussetzungen, so muss man klar feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit für den vielfach herbeigeorakelten strengen Winter sehr gering ist. Vor allem angesichts des global sehr hohen Temperaturniveaus ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet Europa zu einer Kälteinsel werden sollte. Positive NAO und Wassertemperaturen rund um Europa sprechen deutlich für einen Mildwinter, der im Schnitt ungefähr auf dem Niveau des Winters 2014/15 zu liegen kommen dürfte. Die Modellrechnungen des CFS bestätigen diesen Trend mit einer Abweichung von ungefähr 1 Grad gegenüber dem Mittel 1981-2010 in weiten Teilen West- und Mitteleuropas. El Niño könnte dazu führen, dass die positive NAO in der zweiten Winterhälfte geschwächt wird. Die Wahrscheinlichkeit für eine kalte Phase mit strengen Frösten, eingeleitet durch eine Nordost- bis Ostlage, ist also durchaus gegeben. Die Ausgangslage spricht für ein solches Szenario am ehesten im Kernwinter, also zwischen Mitte Januar und Mitte Februar, es könnte aber durchaus auch erst im Frühling auftreten. Die erste Winterhälfte ist eher geprägt von wechselhaftem und feuchtem Westwindwetter mit zeitweilig warmen Südwest- und kälteren Nordwest-Einlagen, die für eine normale bis leicht überdurchschnittliche Schneebedeckung in den mitteleuropäischen Gebirgen sorgt. In den Niederungen halten sich Schneedecken vermutlich jeweils nur kurzzeitig. In der zweiten Winterhälfte (ab Mitte Januar) werden längere (höhen-)milde und hochdruckdominierte, aber auch längere kalte Phasen mit schwächerem Westwindeinfluss und somit eher trockener Witterung wahrscheinlicher. Wie lange sich dabei eine Schneedecke auch in den Niederungen halten kann, ist stark von der zeitlichen Abfolge der Grosswetterlagen abhängig und auf einen derart langen Zeitraum nicht vorhersagbar. Die gemittelte Prognose des CFS-Langfristmodells über alle drei Wintermonate bestätigt den Einfluss des Atlantiks auf West- und Mitteleuropa durch leicht überdurchschnittliche Niederschläge, während im Osten kein eindeutiger Trend für eine Abweichung von der Norm zu erkennen ist:
Wie bei fotometeo.ch üblich werden wir auch diese Prognose nach Ablauf des Winters öffentlich verifizieren. Bereits in 100 Tagen ist es soweit…
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Microwave am 23. November 2015 um 10:35 Uhr
Wow! Wieder mal ein gewaltiger Beitrag, der sich wie so oft kein bisschen vom Medien-Tohuwabohu beirren lässt, sondern einfach die Fakten auf den Tisch legt und gegeneinander abwägt!
Super, weiter so! 🙂
Grüsse – Microwave
Marco Stoll am 23. November 2015 um 19:37 Uhr
Hallo Fabienne,
vielen Dank für die Zusammenstellung der Fakten und deiner Einordnung möglicher daraus resultierender, interagierender Prozesse.
Du argumentierst sehr stark „bottom up“, einmal von den Sonnenflecken abgesehen. Wie ist die Rolle der Stratosphäre zu gewichten? Stichworte QBO und Polarwirbel. Mögliche SSW Ereignisse, die in Europa schnell die Vorzeichen umkehren können?
Bin sehr gespannt, wie sich der Winter entwickeln wird, Danke für deine Einschätzung und liebe Grüsse
Marco
Fabienne Muriset am 23. November 2015 um 20:04 Uhr
Hoi Marco
Danke für deinen Input. Da mir bisher noch keine zuverlässigen Prognosemethoden oder hieb- und stichfeste Statistiken über das Verhalten der Stratosphäre bekannt sind, verzichte ich bewusst auf Spekulationen darüber. Meine Beobachtungen über die „höheren“ Einflüsse der letzten Jahre haben mich in der Auffassung bestärkt, dass diese ziemlich chaotisch ablaufen. Da scheinen mir die Einflüsse von unten deutlich logischer nachvollziehbar und daher auch vorhersehbar zu sein – auch wenn man hier niemals den Überblick über all die ineinander greifenden Zahnrädchen haben kann. Ich zerbreche mir z.B. noch heute das Hirn darüber, warum mitten im Winter 2004/05 eine so deutliche Zäsur von NAO+ zu NAO- und damit ein abrupter Wechsel von Mild- zu Kaltwinter stattfinden konnte. Zum Glück ist beim Wetter nicht immer alles vorhersehbar, sonst wäre es langweilig und wir hätten nicht die Möglichkeit, ein Leben lang an unserem Beruf zu wachsen.
In diesem Sinne: liebe Grüsse und einen schönen Winter
Fabienne
Mario Rindlisbacher am 24. November 2015 um 11:44 Uhr
Hallo Fabienn. Besten Dank für die tolle Zusammenstellung! Auf was beziehst du dich beim Zusammenhang zwischen ENSO und Europa? Deine Überlegung scheint logisch, habe sie aber sonst in dieser Form noch nirgens bestätigt gesehen. Mein aktuelles Wissen basiert auf Fraedrich: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1034/j.1600-0870.1994.00015.x/abstract
Demnach eher NAO positiv mit positiver Temperatur- und Niederschlagsanomalie.
Liebe Grüsse
Mario
Fabienne Muriset am 24. November 2015 um 12:21 Uhr
Salü Mario und merci für deinen Input. Die von dir verlinkte Studie kannte ich noch nicht, wahrscheinlich weil sie schon reichlich alt ist. Sie untermauert den Eindruck der widersprüchlichen Aussagen über den Einfluss von El Niño auf Europa. Meine Überlegungen basieren unter anderem auf diesen Quellen: http://www.metoffice.gov.uk/research/climate/seasonal-to-decadal/gpc-outlooks/el-nino-la-nina/ENSO-impacts
und http://www.tropicaltidbits.com/analysis/analogs.html Diese Prognose basiert auf 5 El Niños in der Vergangenheit. Man achte hier vor allem auf die Unterschiede zwischen Nov/Dez (NAO+) und Jan/Feb (NAO-). Ob sich diese Prognose beim aktuellen extremen und untypischen El Niño-Muster bestätigt, wird sich weisen müssen. Das wird auf jeden Fall spannend mitzuverfolgen sein.
Schöne Grüsse
Fabienne