Vom 19. auf den 30. und letzten Rang aller Grosswetterlagen abgestürzt: Die “Nordostlage, in Mitteleuropa überwiegend antizyklonal” hat in den letzten 23 Jahren ordentlich Federn lassen müssen und ist hiermit die grosse Verliererin unter den Ostlagen, die sonst nur wenig Veränderung erfahren haben. Es gibt allerdings Anzeichen, dass diese Schwäche nur ein vorübergehendes Phänomen sein dürfte. Ein Porträt.
Beschreibung
Von den Azoren erstreckt sich eine Hochdruckbrücke über die Britischen Inseln nach Nordeuropa mit antizyklonaler Ausweitung bis Mitteleuropa. An der Nordwestflanke des Hochdrucksystems ziehen atlantische Störungen zum Eismeer. An der Südostflanke strömt Festlandsluft nach Mitteleuropa. Über der Ukraine und der Schwarzmeer-Region befindet sich häufig ein ausgedehntes Tiefdrucksystem.
Zuordnung
Grosswettertyp (GWT): Ost
Zirkulationsform (ZF): meridional
Klimaregime: Block
Verwandte GWL: in antizyklonaler Richtung Hoch Fennoskandien antizyklonal HFA und Hochdruckbrücke Mitteleuropa BM; in zyklonaler Richtung Nordost zyklonal NEZ
Statistik
häufigstes Auftreten im Zeitraum 2001-2023: Mai 2.38 %
häufigstes Auftreten im Zeitraum 1881-2008: Juni 4.77 %
seltenstes Auftreten im Zeitraum 2001-2023: Juli, Oktober und November je 0.00 %
seltenstes Auftreten im Zeitraum 1881-2008: November 0.42 %, Dezember 0.60 %
Häufigkeit Gesamtjahr im Zeitraum 2001-2023: 0.58 %, Veränderung gegenüber 1881-2008: -1.60 Prozentpunkte
Rang Häufigkeit aller GWL: 1881-2008 Rang 19, 2001-2023 Rang 30 (Rangverschiebung: -11)
längste ununterbrochene GWL NEA: 14 Tage vom 21. August bis 3. September 1947
häufigste Nachfolge-GWL 1881-1997: 1.: Hoch Britische Inseln HB 9.0 %, 2. Hochdruckbrücke Mitteleuropa BM und Hoch Mitteleuropa HM je 7.6 %
häufigste Nachfolge-GWL 1971-2022: 1.: Hoch Britische Inseln HB, Hochdruckbrücke Mitteleuropa BM und Nordwest zyklonal NWZ je 10.8 %
seltenste Nachfolge-GWL 1881-1997: 1.: südliche Westlage WS 0.0 %, 2. Süd zyklonal SZ 0.3 %, 3. Südwestlagen SWA/SWZ je 0.8 %
folgt auf GWL 1971-2022: 1.: Hochdruckbrücke Mitteleuropa BM 13.5 % / 2.: Hoch Britische Inseln HB und West antizyklonal WA je 10.8 %
NEA hat in allen Monaten stark abgenommen, aus einigen Monaten ist sie in den letzten 23 Jahren gar völlig verschwunden. Sie ist aber immer noch eine typische Erscheinung der ohnehin stark meridional geprägten Frühlingsmonate bis inklusive Juni.
Die tagesgenaue Auflösung zeigt eine recht zufällige Verteilung. Am auffälligsten ist noch die Spitze Mitte Juni, die in der neuen Klimaperiode völlig verschwunden ist.
Sowohl die langfristige wie die mittelfristige Entwicklung dieser Wetterlage ist sehr speziell. Seit Beginn der Statistik 1881 war NEA relativ konstant mit durchschnittlich zehn Tagen pro Jahr vertreten. Der Absturz begann in den 1960er-Jahren und erreichte seinen Tiefpunkt kurz nach der Jahrtausendwende, seither gibt es wieder einen Trend zur Erholung. Erklären kann man sich die neueste Entwicklung mit der gleichzeitigen Zunahme von Hochdruckbrücke Mitteleuropa (BM): Bei zunehmender Nordverlagerung der Drucksysteme wird aus einer BM rasch einmal eine antizyklonale Nordostlage, der Übergang ist fliessend. Es würde daher nicht erstaunen, wenn diese Wetterlage in den nächsten Jahren wieder zunimmt.
Witterung
Generell trocken. Im Winterhalbjahr kalt, im Sommerhalbjahr gemässigt warm mit eher kühlen Nächten.
Frühling: kälter als normal mit Ausnahme der Tageshöchsttemperatur im Westen; Niederschlag unternormal
Sommer: wärmer als normal ausser südöstliches Mitteleuropa; Niederschlag unternormal
Herbst: wärmer als normal ausser Tagesminima; Niederschlag unternormal mit Ausnahme des südöstlichen Mitteleuropa
Winter: kälter als normal; Niederschlag unternormal
Typische Beispiele
Frühling (Klick ins Bild öffnet grössere Ansicht):
Wie bei den meisten Ostlagen, die ihr häufigstes Auftreten im Frühling aufweisen, wandern auch in diesem Fall Kaltlufttropfen an der Ostflanke des Hochs nach Süden und später Westen. In diesem Fall ist das Hoch über Mitteleuropa stark genug, um das Tief im Osten zu blockieren, daher wird die Lage als antizyklonal eingestuft. So spät im Frühling ist es entscheidend, ob die Strömung eher eine nördliche oder östliche Komponente hat: Hier ist es eher eine nördliche, was noch mal recht tiefe Temperaturen bringt, Bodenfrost in einigen Muldenlagen (nicht nur hoch gelegene) inklusive.
Winter:
Bei einer Nordostlage in der zweiten Winterhälfte wird das riesige Kaltluftreservoir über Sibirien angezapft, das zu dieser Jahreszeit die tiefsten Temperaturen aufweist. Entsprechend sinken die Temperaturen in Mitteleuropa verbreitet auf Tiefstwerte unter -20 °C und steigen tagsüber vielerorts nur knapp oder gar nicht über -10 Grad. Anders als im Sommerhalbjahr bewirkt die Kaltluftzufuhr auch Tiefdruckbildung über dem zentralen Mittelmeer, was die Bise auf der Alpennordseite verstärkt, sie erreicht vor allem in der Westschweiz Sturmstärke. Antreiber der ganzen Geschichte ist das mit fast 1050 hPa sehr kräftige Hoch über Skandinavien. Aufgrund des starken Hochdrucks in Bodennähe und der kontinentalen Herkunft der Luftmasse ist auch die Höhenkaltluft nur schwach wirksam: Es braucht den zusätzlichen Hebungsantrieb der Alpen und der Mittelgebirge, um schwachen Schneefall auszulösen. Es flöckelt zwar an diesem Tag 24 Stunden ununterbrochen, die Ausbeute ist jedoch mit knapp 1 mm Wasseräquivalent äusserst gering.
Markante Wettererscheinungen, Unwetterpotenzial
Eine besondere Begleiterscheinung der antizyklonalen Nordostlage ist der Bisensturm am Genfersee, wo der Nordostwind zwischen Alpen und Jura kanalisiert wird und die Gischt des Wassers an den Uferpromenaden gefriert und bizarre Eisskulpturen hervorbringt. Klirrende Kälte ist bei dieser Wetterlage im Winter vorprogrammiert, denn die Herkunft der Luftmasse ist immer polar-kontinental. Im Frühling sind schädliche Spätfröste noch bis weit in den Mai möglich, insbesondere in windgeschützen Lagen. Anders im Sommer, dann ist der Kontinent aufgeheizt und die Wärme ist hauptsächlich aufgrund der Trockenheit (tiefe Taupunkte, kein Schwüle-Empfinden), des stetig fächelnden Windes und der eher kühlen Nächte gut zu ertragen. Gewitter sind bei einer solchen Lage ein sehr lokal begrenztes Phänomen der Gebirge.
Auswirkungen auf den Vogelzug
NEA wird nur von den früh ziehenden Vogelarten im Spätsommer leicht überdurchschnittlich genutzt. Im Herbst ist bei dieser Wetterlage trotz Rückenwind kaum Vogelzug zu beobachten, was mit dem häufig herrschenden Hochnebel zusammenhängen dürfte: Entweder der Vogelzug findet gar nicht statt oder entzieht sich in grosser Höhe der Beobachtung. Im Frühling ist der Vogelzug bei dieser Wetterlage trotz besserer Sichtbedingungen wohl unterdurchschnittlich, da auch in Bodennähe recht starker Gegenwind blasen kann.
Grundlagen:
Katalog der Großwetterlagen Europas (1881-2009) nach Paul Hess und Helmut Brezowsky
Statistik der Grosswetterlagen aufgeschlüsselt nach Monat und Gesamtjahr im Zeitraum 2001-2020
Wulf Gatter: Vogelzug und Vogelbestände in Mitteleuropa, erschienen im Aula-Verlag, 2000
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