Nun ist sie also da, die medial viel zu früh und zu dramatisch ausgerufene Hitzewelle. Dabei werden diesmal in Westeuropa Rekorde in bisher unvorstellbarer Höhe aufgestellt, zum Glück dennoch weit entfernt von den ursprünglich kolportierten 46 Grad. Wir betrachten hier die aussergewöhnlichen Umstände, die dafür genau zusammenpassen müssen und wie es in den nächsten Tagen weitergehen soll.
Die Ausgangslage mit den grossräumigen Strömungen in Europa präsentiert sich heute wie folgt:
Die Grosswetterlage Hoch Mitteleuropa ähnelt einem Omega-Hoch, das allerdings keinen Bestand hat, weil das Tief am östlichen Fuss zu schwach ist und sich somit das ganze System rasch nach Osten verlagern kann. Damit ist die Situation am Mittwoch auch zu kurz um eine GWL Trog Westeuropa klassifizieren zu können (Bedingung wäre eine Mindestdauer von drei Tagen), trotzdem haben wir vorübergehend genau diese Konstellation von TRW, die bekanntlich zu den unwetterträchtigsten Lagen bei uns gehört. Die hinter dem westeuropäischen Tief nachfolgende Strömung mit erneut nach Westeuropa vorstossendem Azorenhochkeil mündet wie bereits vor einer Woche in eine antizyklonale Westlage, das Spiel kann also von vorne beginnen: Nach kurzer Abkühlung auf Tageshöchstwerte knapp unter der Hitzemarke gräbt sich vor Westeuropa das nächste Tief ein. Noch ist nicht klar, ob es auch diesmal abtropft, zumindest eine Südwestlage ist aber aus heutiger Sicht wahrscheinlich und damit die nächste Hitzewelle.
Derzeit machen Hitzerekorde im äussersten Westen Europas Schlagzeilen, soeben wurde aus London-Heathrow ein neuer Landesrekord von 40.2 °C gemeldet und noch ist ja nicht Abend, es könnten also noch weitere folgen. Bereits am Montag wurden in Westfrankreich die bestehenden Rekorde regelrecht pulverisiert. Am auffälligsten ist der Höchstwert von Nantes von 42.0 °C (der alte Rekord lag bei 40.3 °C vom 12.07.1949). Auch in der Bretagne wurde ein neuer Rekord aufgestellt: 41.6 °C in Bléruais, und es gibt einen neuen Landesrekord für Wales: 37.1 °C, gemessen am Flughafen Hawarden (alter Rekord 35.2 °C vom 02.08.1990). Das alles ist bemerkenswert, spielt es sich doch in der Nähe des kühlenden Atlantiks ab. Interessant ist daher zu verfolgen, woher die Luftmasse von heute in London stammt und welchen Weg sie genommen hat:
Massgeblich ist die bodennahe Luftmasse (rote Trajektorie) mit Ursprung in Mauretanien. Die Analyse vom 12. Juli zeigt dort 30 Grad im Niveau 850 hPa. Da diese Wüstenluft knochentrocken ist und somit beim Aufstieg nicht kondensieren kann und auch nie tief genug war, um Feuchtigkeit vom Atlantik aufzunehmen, laufen sämtliche Auf- und Abstiegsprozesse trockenadiabatisch ab, d.h. die Luft kühlt pro 100 m Aufstieg um 1 Grad ab und erwärmt sich beim Abstieg um 1 Grad. Am Morgen des 17. Juli befand sich die Luftmasse bereits über Südengland im Niveau 700 hPa = 3200 m und wies laut Analyse eine Temperatur von 8 Grad auf. Sie drehte dann im Hochzentrum noch eine Extrarunde und sank dabei ab, bis sie trockenadiabatisch erwärmt heute mit 40 Grad in London landete. So einfach kann Meteorologie sein 😉
Doch wenden wir uns nun dem Mittwoch bei uns zu und somit der interessantesten Frage: Gibt es endlich wieder mal etwas Nass von oben und wenn ja, wo wieviel? Nun ja, Meteorologie ist doch nicht ganz so einfach 😐 Denn der Kern des Höhentiefs soll nach neuester Berechnung von GFS über Belgien nach Nordosten ziehen, nach ICON-EU über dem Ärmelkanal. Und nach Arpège (worauf Arome beruht), zieht das Höhentief unter Auffüllung ziemlich direkt nach Norden über England weiter. Das hat auch Auswirkungen auf uns, ist doch das Höhentief und somit die Ausdehnung der Höhenkaltluft recht klein. Ob die Höhen“kalt“luft über uns am Abend -10 oder nur -8 Grad erreicht, hat auf die Labilität einen wesentlichen Einfluss. Und auch ob das Geopotenzial mehr oder weniger abbaut, ist essenziell für die Entwicklungs- und Überlebenschancen von Gewittern. Entsprechend unterschiedlich rechnen die hoch aufgelösten Kurzfristmodelle. Relativ sicher ist: Für die erste Auslöse am Nachmittag braucht es Hilfe vom Boden. Feuchte ist da nicht mehr wirklich viel vorhanden ausser Gletscherschmelzwasser. Also am ehesten Auslöse über den Hochalpen, da ist auch mit der stärksten Thermik und den orographisch bedingten Konvergenzen zu rechnen. Die verbreitet starke Auslöse über den Voralpen wie von ICON-D2 gerechnet sehe ich hingegen eher kritisch. Schlussendlich ist das aber gar nicht so relevant fürs Flachland, denn am Nachmittag ist die Höhenströmung noch ziemlich genau Süd-Nord, alles was in den Alpen oder Voralpen entsteht muss also zu uns raus – die Frage ist nur, ob es über dem Flachland überleben kann. Mein Tipp: vorerst wohl nicht, weil noch zu wenig organisierte Einzelzellen, die rasch vertrocknen können. Das ändert sich am Abend, wenn sich das Höhentief nähert und damit der Wind auf Südwest dreht und stetig zunimmt:
Mit der zunehmenden Windscherung besteht die Möglichkeit, dass sich einerseits Superzellen, oder aber auch Cluster bilden können und somit mal eine etwas grössere Fläche im Mittelland bewässern können. Die Variationen sind wie bereits oben angedeutet bei den Modellen vielfältig: ICON-D2 rechnet eher mit (vielen) superzellen-artigen Gewittern, die sich im Lauf des Abends verclustern, während Arome seinem Programm in dieser Saison treu bleibt und am späten Abend ein MCS in der Region Genf entstehen lassen will, der in der Nacht über den Jura und durchs Mittelland ziehen soll. Wie so oft muss man die Entwicklung im Lauf des Nachmittags abwarten und kurzfristig warnen, aber vielleicht einigen sich ja die Modelle noch vorher zumindest auf eine gemeinsame Zugbahn des Höhentiefs.
Wie geht es danach weiter? Der Donnerstag bleibt im Flachland wohl vielerorts knapp unter der Hitzemarke, insbesondere im Osten, wo sich noch länger Restwolken halten. In den östlichen Bergen ist noch mal mit einigen Regengüssen zu rechnen. Am Freitag ein neuer Hitzetag und wahrscheinlich trocken bis auf ein paar wenige lokale Gewitter in den Bergen. Am Samstag erwischt uns noch mal so ein vertrocknendes Kaltfront-Schwänzchen, das mit seiner Hauptaktivität östlich von uns durchzieht, die Chancen für ein wenig Regen stehen im Flachland wohl 50:50. Immerhin beschert uns das noch mal eine kurze Verschnauf- oder Durchlüft-Pause, bevor die nächsten Hitzetage anstehen, am Montag wahrscheinlich mit ähnlich hohen Werten wie heute Dienstag:
Die nächsten nennenswerten Gewitteroptionen für das Flachland sind demnächst erst wieder am Dienstag oder Mittwoch zu erwarten mit entsprechend leichter Abkühlung. Trotz aller Streuung in den Ensembles ist aber zu erkennen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass bis Ende Monat die Temperaturen mal unter das langjährige Mittel fallen, extrem niedrig sind. Der Median liegt (für Bern, das ja nicht gerade als Hitzepol der Schweiz bekannt ist) meist bei 30 Grad oder nur knapp darunter. Auch die Niederschlagwahrscheinlchkeiten sehen nicht garade berauschend im eigentlichen Wortsinn aus. Kurzum: Viel zu warm und zu trocken wird es wahrscheinlich noch eine Weile weitergehen. Wenn man den neuesten Langfrist-Rechnungen des europäischen Modells glaubt, sogar bis Ende August.
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Microwave am 20. Juli 2022 um 12:47 Uhr
Hoi Fabienne, danke für den Beitrag, und den Kommentar bzgl. den düsteren Aussichten. Well, 2003 Style läuft…