Mit dem Jahreswechsel und dem Übergang in ein neues Jahrzehnt tritt auch eine neue Klimareferenzperiode auf den Plan. Dass die Temperatur im Mittel der Jahre 1991-2020 gegenüber der alten Klimanorm 1961-1990 gestiegen ist, kann leicht belegt werden. So stieg die Temperatur im Flächenmittel Deutschlands über das ganze Jahr gesehen um 1.06 Grad. Ist das Wetter einfach wärmer geworden oder haben sich auch die Wetterlagen verändert? Wir gehen dieser Frage im Detail nach und betrachten dabei jede Jahreszeit aufgrund der Komplexität gesondert in einem separaten Beitrag. Den Anfang macht der Winter, umfassend die Monate Dezember, Januar und Februar.
Noch etwas stärker als das Jahresmittel hat sich in den letzten 30 Jahren der Winter erwärmt, nämlich um 1.14 Grad. Dabei entfallen 1.00 Grad auf den Dezember, 1.38 Grad auf den Januar und 1.14 Grad auf den Februar. Im Winter wird die an sich kaum spürbare Erwärmung an anderen Parametern deutlich sichtbar: Die Anzahl der Schneedeckentage nimmt insbesondere in den tiefen Lagen markant ab, ebenso die Zahl der Eistage (Tage mit Dauerfrost). Dabei erscheint es logisch, dass dieselben Wetterlagen etwas wärmer geworden sind als früher: Die Meere rund um Europa weisen im Winter immer häufiger höhere Wassertemperaturen auf, die Ostsee friert seltener zu und das Arktiseis hat sich zurückgezogen. Polare Luftmassen müssen längere Wege über offenes Meereswasser zurücklegen und nehmen von diesem Energie auf, sodass insbesondere die untersten Luftschichten erwärmt werden. Ein Anstieg der bodennahen Temperatur um ein Grad bewirkt einen Anstieg der durchschnittlichen Schneefallgrenze um etwa 150 Meter. Geringer ist dieser Einfluss auf die höheren Luftschichten. Doch auch im Gebirge nimmt die Temperatur zu, wenngleich es dort immer noch kalt genug ist für Schnee. Also muss es gleichzeitig auch eine Veränderung bei der Verteilung der Grosswetterlagen und somit der Herkunft der Luftmassen geben, was wiederum Auswirkungen hat auf die Häufigkeit, Intensität und Verteilung von Niederschlägen, Bewölkung, Sonnenschein und Strahlungsnächten.
Mit der Klassifizierung von Zirkulationsformen (ZF), Grosswettertypen (GWT) und Grosswetterlagen (GWL) haben wir ein praktisches Instrument, um den Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die Witterung in Europa detailliert auf den Grund zu gehen. Seit 2012 führen wir kontinuierlich einen Wetterlagenkalender auf unserer Partnerseite orniwetter.info, die älteren Daten haben wir vom DWD bzw. dem PIK Potsdam übernommen. Unser Augenmerk richtet sich schwerpunktmässig auf die Entwicklung der letzten 20 Jahre gegenüber früheren Mittelwerten.
Als erstes betrachten wir die Veränderung der Grosswettertypen der letzten 20 Jahre zum Mittel seit 1881:
Widerlegt wird hierbei die Annahme, dass aufgrund der Erwärmung der Arktis und somit der geringeren Temperaturdifferenz zwischen polaren und gemässigten Breiten die Westlagen abgenommen haben – sie haben sogar geringfügig zugenommen. Augenfällig ist hingegen die Zunahme von Nord-, Nordwest- und Südwestlagen auf Kosten von Ost-, Hochdruck- und Tiefdrucklagen über Mitteleuropa. Konkret heisst das: In den Wintermonaten gibt es weniger Hochdrucklagen über Mittel- und Nordeuropa, stattdessen mehr Tiefdruck über Nord- und Osteuropa bei gleichzeitig häufig höherem Luftdruck über dem Nordatlantik, was die Zunahme der Nord- und Nordwestlagen erklärt. Oder anders gesagt: Winterliche Hochdruckgebiete haben sich vom Kontinent zunehmend nach Westen auf den Atlantik verschoben. Erklären kann man dies mit einer stärkeren Temperaturdifferenz zwischen dem Festland Nordeuropas (Skandinavien, Nordwestrussland) und dem Nordmeer. Während sich das Meer erwärmt und sich das Eis zurückgezogen hat, kühlt der Kontinent im Winter nach wie vor stark aus. Starke Temperaturgradienten fördern die Bildung von Tiefdruckgebieten, was somit häufiger über Nordeuropa geschieht. Doch gehen wir noch etwas stärker ins Detail und schauen uns für denselben Zeitraum die Veränderung der Grosswetterlagen an:
Hier wird die erste Analyse aufgrund der GWT untermauert: Am meisten eingebüsst haben Hochdrucklagen über Mitteleuropa (HM), sowie alle Hochdrucklagen über Nordeuropa mit antizyklonalem Einfluss auf Mitteleuropa (HFA, HNFA, HNA, NEA), sowie die südliche Westlage (WS), die ebenfalls mit höherem Luftdruck über Nordeuropa einhergeht. Am stärksten zulegen konnten hingegen die Troglagen über West- und Mitteleuropa (TRW, TRM), die zyklonale Nordwestlage (NWZ) und die Winkelwest-Lage (WW). Womit wir wieder bei der Theorie der Abschwächung der Westwindzirkulation wären: Westlagen haben zwar insgesamt nicht abgenommen, konnten sich aber weniger häufig gegen bestehende Hochdruckblockaden über Osteuropa durchsetzen. Es gibt also innerhalb des GWT West eine Verlagerung weg von den normalen Westlagen (WZ, WA) und vor allem der südlichen Westlage hin zur Winkelwest-Lage (= Frontenfriedhof Mitteleuropa).
Doch was ist mit dem subjektiven Eindruck vieler Menschen, heute gäbe es im Winter viel weniger Westlagen als in ihrer Kindheit/Jugend? Schaut man sich die Veränderung der GWT der letzten 20 Jahre mit den vorhergehenden 20 Jahren an (1981-2000), dann wird einiges klarer:
Bei diesem Vergleich haben tatsächlich die Westlagen am stärksten eingebüsst. Was ist los? Nicht etwa die Periode 2001-2020 war arm an Westlagen, sondern 1981-2000 wies aussergewöhnlich viele Westlagen auf, insbesondere in den späten 80er und frühen 90er Jahren. Ursache war eine Periode stark positiver Nordatlantischer Oszillation (NAO+). Damals gab es eine beeindruckende Serie sehr milder, selbst im Gebirge schneearmer Winter mit heftigen Stürmen, was erstmals das Thema Klimaerwärmung der breiten Bevölkerung bewusst machte. Betrachtet man den gesamten Verlauf, dann stellt man bezüglich Westlagen fest: Die Periode 2001-2020 führte zurück zur Normalität:
Hingegen ist der steigende Trend bei Nord-, Nordwest- und Südwestlagen auf Kosten der Hochdruck- und Ostlagen kontinuierlich. Und so erklärt sich dann auch das Gesamtbild im Zusammenhang mit der Erwärmung: Nordwest- und Nordlagen sind im Winter milder als Ost- und Hochdrucklagen mit kontinentaler Luft, die viel stärker auskühlt. Es gilt aber noch einen weiteren Aspekt zu beachten:
Während sich nach dem Ausreisser in den 80er und 90er Jahren die Zirkulationsform wieder normalisiert hatte, gibt es einen eindeutigen Trend zu mehr zyklonalen Lagen, also tiefdruckbestimmtem Wetter, was sich anhand obiger GWL-Analyse bestätigt. Und das scheint ein sich selbst verstärkendes System zu sein: Mehr Troglagen, mehr Tiefdruck bedeutet auch mehr Feuchtigkeit, also mehr Niederschlag und mehr Wolken. Das erklärt die Zunahme von aussergewöhnlichen Schneelagen insbesondere in den Staulagen der Gebirge, sei es im Norden oder Süden der Alpen oder in den Mittelgebirgen. Das ist ein Aspekt, der mitunter dem weniger meteorologisch gebildeten Publikum schwer zu vermitteln ist: Dieses Paradoxon, dass die Klimaerwärmung auch mehr Schnee in den höheren Lagen zur Folge haben kann (und gelegentlich auch in den tieferen Lagen des Alpenvorlandes, wie kürzlich geschehen). Denn auf dem oben geschilderten Weg polarer Luftmassen über offenes Meer wird nicht nur mehr Energie in Form von Wärme, sondern auch mehr Feuchtigkeit aufgenommen. Ist die Feuchtigkeit mal in Mitteleuropa angekommen, setzt sie eine weitere Kette kälteverhindernder Prozesse in Gang: Wolken dominieren, der Tagesgang der Temperatur ist gering. Mangels nächtlicher Ausstrahlung kühlt die Luftmasse nicht aus, es fehlen vor allem die klaren, knackig kalten Nächte. Zudem kommt die Luft bei Tiefdruck nicht zur Ruhe und wird durch den Wind ständig umgewälzt, was die nächtliche Auskühlung ebenfalls behindert.
Löst man die Entwicklung der letzten 40 Jahre nach Jahrzehnten auf, werden noch weitere, neue Entwicklungen sichtbar:
Hier sieht man, dass die Häufung der Nordlagen und Abnahme der Westlagen in den 00ern ein Ausreisser war, damit lässt sich die Serie kälterer Winter 2008-2010 erklären. Verstärkt hat sich hingegen der Trend zu einem Anstieg von warmen Südwest- und Südlagen (darunter vor allem Trog Westeuropa), was den Anstieg der kühleren und schneereichen Nordwestlagen ausgleicht. Interessant ist hierbei vor allem die Veränderung bei den Südwestlagen: Während sie im Februar stark abgenommen haben, haben sie sich im Dezember und Januar mit einer Zunahme von 6-7 % auf 12 % fast verdoppelt. In der Gesamtperiode 1881-2008 waren Südwestlagen im Herbst am häufigsten, d.h. eine typische Herbstwetterlage tritt nun immer mehr auch in der ersten Winterhälfte auf: Der Herbst wird verlängert. Denselben Effekt haben die bisher für den Herbst typischen Südlagen. Die in unseren Winterprognosen immer häufiger getroffene Annahme, dass die kalten Phasen wahrscheinlich erst in der zweiten Winterhälfte Ende Januar bis Februar auftreten, beruht also auf einer statistischen Zunahme und wurde häufig bestätigt (z.B. zweite Januarhälfte 2017, Ende Februar 2018), wenn sie nicht gleich ganz ausgeblieben sind wie in den letzten zwei Wintern. Die Verspätung winterlicher Verhältnisse, wie wir sie von früher her kennen, ist eine logische Folge davon, dass sich das Arktiseis aufgrund des im Sommer stärker aufgeheizten Nordmeers später bildet. Ob sich diese Verschiebung auch auf den Frühling auswirkt, werden wir dann bei der Analyse der Wetterlagen-Entwicklung der Monate März bis Mai sehen.
Grundlagen:
Katalog der Großwetterlagen Europas (1881-2009) nach Paul Hess und Helmut Brezowsky
Anteile der Grosswetterlagen aufgeschlüsselt nach Monat pro Jahrzehnt seit 1981
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Microwave am 30. Januar 2021 um 12:53 Uhr
Brutal geniale Analyse und Zusammenfassung!
Danke vielmals dafür!
Habe ich es korrekt verstanden, dass man die Winter in tiefen Lagen früher eher schneereicher in Erinnerung hat, hauptsächlich weil die Schneefallgrenze wie weiter oben geschrieben ist durchschnittlich um 150 m gestiegen ist?
Was macht die Zunahme der aussergewöhnlichen Schneelagen in den Alpen für die Gletscher? Oder ist da der Sommer viel wichtiger?
Ich freue mich schon jetzt auf die weiteren Analysen, besonders aber auf die vom Sommer =D
Grüsse – Microwave
Fabienne Muriset am 30. Januar 2021 um 20:39 Uhr
Hoi Microwave
Nicht nur in der Erinnerung waren die Winter früher schneereicher, das ist messbar und wurde kürzlich in einem gemeinsamen Bericht von MeteoSchweiz, DWD und ZAMG erläutert: https://kurzelinks.de/kji0
Die steigende Schneefallgrenze führt dazu, dass in tiefen und mittleren Lagen immer häufiger Regen statt Schnee fällt. Das zeigt sich in der sinkenden Anzahl der Schneedeckentage. Natürlich schmilzt einmal gefallener Schnee in einem wärmeren Klima auch schneller weg. Die Veränderung der Wetterlagen hin zu mehr Tiefdruck bewirkt zudem, dass die wenigen Schneefallereignisse ergiebiger sein können. Anders gesagt: Schnee fällt zwar seltener, aber durchaus auch mal viel aufs Mal. Tiefdrucklagen begünstigen zudem einen raschen Wechsel von kalten und warmen Luftmassen, sodass auch grosse Schneemengen bald wieder weggespült werden, mit entsprechenden Auswirkungen auf gehäuftere Hochwasserlagen. Der aktuelle Winter ist geradezu ein Paradebeispiel für diese Entwicklung.
Ein eindrückliches Beispiel, dass viel Schnee im Hochgebirge wenig nützt, wenn Frühling und Sommer aussergewöhnlich warm werden, hatten wir 2018. Zum Ende des Winters lagen im Hochgebirge teils rekordverdächtige Schneemassen, im Juni hatte sich das bereits alles wieder verflüssigt und der erhoffte Schutz für die Gletscher im Sommer blieb aus.
Grüsslis
Fabienne
Jürgen Höneke am 1. Februar 2021 um 21:45 Uhr
Vielen Dank, Fabienne, auf diese Analyse habe ich schon lange gewartet. Freue mich schon auf die Fortsetzung im Frühling, bei dem ich ja den April im letzten Jahr schon mal selbst unter die Lupe genommen hatte.
Giaco am 5. März 2021 um 13:12 Uhr
Servus Fabienne! Sehr gut, wirklich sehr gut! A) Frage zu den beiden Graphiken nach “Als erstes betrachten wir die Veränderung der Grosswettertypen der letzten 20 Jahre zum Mittel seit 1881:” – warum hast Du eine Schnittmenge in den Vergleichen? “Referenz” oder “Normalseite” liefern die Jahre 1881 bis 2008, und dagegen werden die Jahre ab 2001 gestellt. Führt das nicht zu einer Verwässerung der Darstellung, wenn in den beiden Vergleichen die Jahre 2001 bis 2008 auf beiden Seiten eingehen? (Oder ist einfach nur die Beschriftung irreführend und es sollte “…1881 bis 2000…” heißen?
B) Anmerkung zu “Winterliche Hochdruckgebiete haben sich vom Kontinent zunehmend nach Westen auf den Atlantik verschoben.” Ist das so? Reicht als Erklärung für die statistische Abnahme der Hochdrucklagen im Winter nicht einfach die “Spätherbst-Verlängerung” mit ihren Westlagen? Entsprechned bliebe weniger Zeit für winterliche Hochdrucklagen. Oder Ostlagen.
Fabienne Muriset am 5. März 2021 um 13:20 Uhr
Hallo Giaco, danke für die Rückmeldung!
A) Die Überschneidung hat ganz triviale Gründe: Ich müsste, um eine Trennung vollziehen zu können, die GWL aller Jahre manuell in Excel erfassen. Also von jedem Monat alle GWL auszählen und eintragen. 1981-2020 habe ich das gemacht, benötigte zwei volle Arbeitstage alleine für diese drei Monate (neun stehen ja noch bevor). Dies nun retour bis 1881 oder zumindest 1901? Man rechne…
Die Periode 1881-2008 ist hingegen in der verlinkten Studie des PIK bereits ausgewertet – als Gesamtheit. Die Überschneidung betrifft 28 von 128 Jahren, also weniger als ein Viertel. Ich fand das angesichts des sonst nötigen Aufwands vertretbar.
B) Das Fazit, dass sich die Hochdruckgebiete nach Westen verschoben haben, ergibt sich aus der Tatsache, dass Nord- und Nordwestlagen deutlich zugenommen haben.
Beste Grüsse
Fabienne