Kennen Sie einen Dachdecker, der im Winter nur mit einem nassen T-Shirt bekleidet seine Arbeit verrichtet? Nein? Wir nämlich auch nicht. Und trotzdem tun manche Medienmeteorologen so, als würde sich die breite Bevölkerung genau so unsinnig verhalten. Aufklärung tut Not.

Selbst im Sommer streift sich der Messnetz-Techniker kein nasses T-Shirt über, um den Windmesser in luftiger Höhe zu warten
Noch vor einigen Jahren hätten wir müde gelächelt über die Meldung, dass im Schweizer Mittelland verbreitet Temperaturen zwischen -5 und -10 Grad gemessen wurden. Doch heute Morgen waren die -8.4 °C in Bern/Zollikofen das Tiefste, was unsere Winter seit Anfang März 2018 zustande gebracht hatten, entsprechend waren die Radiomoderatoren und Medienmeteorologen völlig aus dem Häuschen. Endlich konnte man wieder mal von “klirrend kalt” sprechen, ohne zu schummeln. Wobei dann doch noch die Werte aus den Kältelöchern der Alpen aufgezählt werden mussten: Interessant allemal, aber Lichtjahre von Rekorden entfernt – dazu müsste es nämlich noch gut 15 bis 20 Grad kälter werden.
Um dem nach echtem Winter dürstenden Publikum doch noch gelegentlich etwas bieten zu können, ist man in den letzten Jahren vermehrt dazu übergegangen, in Wetterberichten von der “gefühlten Temperatur” zu sprechen. So auch in der Sendung Meteo von SRF am Freitagabend nach der Hauptausgabe der Tagesschau:
Gezeigt werden hier die für Samstagnachmittag erwartete Windströmung (Bise) und die prognostizierte Tageshöchsttemperatur (z.B. 0 Grad in Genf, -2 Grad in Bern). Jeweils rechts unten hinzugefügt wurde dann noch die Windchill-Temperatur (WCT), mit dem Hinweis, so wird es sich am Samstagnachmittag anfühlen. Um es kurz zu machen: Völliger Mumpitz! Eine Umrechnungstabelle, welche Windgeschwindigkeit bei welcher Temperatur zu welchem Windchill-Faktor führt, findet ihr hier. Im Beispiel von Genf müsste, um bei einer gemessenen Temperatur von 0 Grad eine WCT von gerundet -8 Grad zu erreichen, der Wind mit 45-55 km/h wehen. Man hat hier offenbar gleich doppelt geschummelt, denn der Windchill-Faktor wird aus dem Mittelwind berechnet, hier hat man aber offenbar die Böen genommen (gemessen wurden am Nachmittag in Genf ein maximaler 10-Min-Mittelwind von 28 km/h und eine Maximal-Böe von 41 km/h bei +1.2 °C). Noch absurder wird es, wenn wir auf obiger Karte nach Chur blicken: Dort kommt die Bise nämlich gar nicht gut hin (gemessen 14 km/h Mittelwind und Max-Böe von 24 km/h bei max. -0.4 °C), trotzdem soll dort der Windchill-Faktor noch stärker sein als in Genf. Geradezu grotesk ist die gezeigte WCT für das nahezu windstille Lugano und das Engadin, aber lassen wir das…
… denn noch wichtiger ist zu wissen, wie die Formel für die Berechnung der Windchill-Temperatur ursprünglich zustande gekommen ist. Im Winter 1941 wurde während einer Antarktis-Expedition folgende Versuchsanordnung aufgestellt: Ein 15 x 6 cm grosser Kunststoffbehälter mit einer 3 mm dicken Wand (soll die menschliche Haut darstellen) wurde mit 1/4 Liter Wasser gefüllt, dazu massen zwei Widerstandsthermometer die Lufttemperatur ausserhalb und die Wassertemperatur innerhalb des Kunststoffbehälters und ein Schalenkreuzanemometer die Windgeschwindigkeit. Die Formel wurde bis heute noch mehrmals verfeinert, dennoch weist sie wesentliche Schwächen auf:
Sie berücksichtigt weder Luftfeuchtigkeit noch Sonneneinstrahlung, noch die sehr individuelle Temperaturwahrnehmung jedes einzelnen Menschen, die wiederum von Alter, Geschlecht, Körpergrösse und -gewicht, Hautfeuchtigkeit, Gesundheitszustand und genetischer Veranlagung abhängig ist. Mal abgesehen davon, dass man grobe Fehler bei der Prognose wie oben dargestellt vermeiden sollte: Die in manchen Wetterseiten gezeigte WCT beruht direkt auf Messungen der Wetterstationen, die in den meisten Fällen in unbebautem Gelände und sehr häufig an exponierten Stellen stehen (man betrachte hierzu die zahlreichen Bilder in unserem Wetterstations-Atlas). Wo die Wetterstationen in bewohntem Gebiet stehen, müssen die Windmesser häufig auf Dächern angebracht werden. So beträgt die Messhöhe in Luzern 41 m, in Zürich 28 m, in Lugano 37 m, in Neuchâtel 22 m, und in Schaffhausen ist der Windmesser gar in 53 m Höhe an einem Mast auf einem Hügel 130 m über der Stadt angebracht.
Anders gesagt: Was uns in diversen Wetterberichten als “gefühlte Temperatur” verkauft wird, hat mit der lebensnahen Realität von Menschen, die den grössten Teil ihrer Wege draussen am Boden zurücklegen, wo durch Reibungsverlust und zahlreiche Hindernisse (Gebäude, Bäume) die Windgeschwindigkeit massiv unter den gemessenen Werten liegt, rein gar nichts zu tun. Annähernd sinnvoll ist die WCT allenfalls für Extremsportler und Leute die beruflich sehr oft in windexponierten Situationen arbeiten müssen – eine überschaubar kleine Zielgruppe.
In Zeiten, wo “gefühlte Wahrheiten” immer häufiger stärker gewichtet werden als belegbare Tatsachen, erstaunt die Schummelei mit der Temperatur allerdings nicht. Leider verabschiedet sich mit der (wie gezeigt oft noch falsch berechneten) Windchill-Temperatur in Wetterprognosen eine Branche immer weiter von ihren wissenschaftlichen Wurzeln. Kein Wunder, kann ein grosser Teil der Bevölkerung daher mit wissenschaftlichen Fakten immer weniger anfangen.
Thomas am 9. Januar 2021 um 22:59 Uhr
Ich denke, die Schummelei hat viel mit der Such(t)e nach Rekorden und Superlativen zu tun. Bei SRF Meteo stelle ich sowieso in vielen Beiträgen zu Wetter/Klima eine – wohlwohllend gesprochen – ungenaue und oft sehr “saloppe” Art fest.
Würde aber nicht die Angabe einer Windchill-Temperatur zumindest für die Berge (Skifahrer) Sinn machen? Es ist doch so, dass der Körper entsprechend massiv schneller auskühlt bzw. Erfrierungserscheinungen zeigt und im Gebirge der Wind halt eine relativ dominante Erscheinung ist. Natürlich unter Verwendung der Windgeschwindigkeit in Bodennähe..
Fabienne Muriset am 9. Januar 2021 um 23:12 Uhr
Hoi Thomas
Ja, bedingt… daher auch mein Hinweis auf Extremsportler. Bei den “normalen” Skifahrern fragt sich halt, wer bei starkem Wind und Kälte noch auf den Pisten unterwegs ist. In den meisten Fällen wirkt sich ja der Fahrtwind stärker aus als der gemessene Wind. Und auch da wird kaum jemand im nassen T-Shirt die Piste runterrasen 😉 Ausnahme – und da sind wir schon wieder bei den zumindest Fast-Extremsportlern: Wer sich auf einer Skitour beim Aufstieg verausgabt hat und dann völlig verschwitzt runterfährt. Aber wie geschrieben: Die Zielgruppe ist überschaubar. In den normalen Wetterberichten für die breite Bevölkerung hat die WCT nichts verloren.
Peter am 11. Januar 2021 um 08:59 Uhr
Stimmt das meiste was du sagst. Jedoch lasst uns nochmals ganz klar betonen: Die Windchillschätzung von 1947 ist nicht die gleiche Versuchsanordnung von heute; du erwähnst dies zwar in einem Nebensatz, aber wirklich fair ist es nicht, dies so nebenbei zu erwähnen. Auch in deinem Kommentar scheinst du falsch davon auszugehen, dass der Windchill für einen verschwitzten Skitour-Fahrer gilt; vielmehr gilt:
– Temperaturschätzung gilt für Gesicht (meist-exponiert)
– Annahme: Person läuft in gemütlichen Tempo in den Wind
– Annahme: Temperatur am Boden ist 2/3 der 10m Windtemperatur
Dass es eine gefühlte Temperatur gibt, ist wohl nicht zu leugnen; dass die von Person zu Person und situativ variiert, genausowenig. Der Windchill gibt – korrekt berechnet (hier wohl weniger der Fall) – jedoch einen guten Anhaltspunkt.
Übrigens: Eine solche “heuristische” Temperatur zu definieren braucht Zeit. Niemand hat behauptet, Wind-Chill Index sei perfekt. Schau dir z.B. https://doi.org/10.1175/BAMS-86-10-1453 an. In den Conclusions wird da ziemlich fair über die Fortschritte berichtet, jedoch auch kritisch mögliche Erweiterungen diskutiert.
Microwave am 14. Januar 2021 um 22:12 Uhr
Danke für den Blogpost! Ich weiss gar nicht, welche Relevanz die WCT überhaupt hat für das Publikum. Für mich hätte sie jedenfalls keine.
Und die wo das relevant finden, werden sich wahrscheinlich ohnehin seriöser informieren…
OT: Wenigstens können sie jetzt vom Jahrtausendschnee reden.
Oder ist das Jahrzehntausendschnee..? *ironie*
Grüsse – Microwave