Alle Jahre wieder wird geunkt: Es soll ein kalter Winter kommen. Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so traurig wäre, waren doch sämtliche solche Prophezeihungen der letzten acht Jahre gelinde gesagt nichts als warme Luft. Klar kommt hin und wieder mal ein kalter Monat zustande (Februar 2018, Januar 2017, mit etwas Goodwill auch Februar 2015), jedoch hat es kein Gesamtwinter seit 2010 mehr geschafft, in der Nordschweiz mindestens ein halbes Grad unter der Referenzperiode 1961-1990 abzuschliessen. So bleiben strenge Winter mit zunehmender Wahrscheinlichkeit Träumereien – es sei denn, man passe die Kriterien für selbige den neuen Gegebenheiten an.

Prognose gemittelte Abweichung der Temperatur über die Monate Dez21-Feb22 gemäss britischem Langfristmodell gegenüber der Periode 1993-2016
Die einleitende Karte zeigt – Überraschung! – auch in diesem Jahr deutliche Signale für einen Mildwinter in Europa, und zwar je nordöstlicher, umso stärker die Abweichung. Gewählt wurde die Prognose anhand einer Auswahl aus acht veschiedenen Langfristmodellen, von denen fünf sehr gut übereinstimmende Muster zeigen, zwei in eine ähnliche Richtung tendieren und nur eines (JMA) aus der Reihe tanzt, indem es für fast ganz Europa keinen eindeutigen Trend zeigt, aber einen eher kalten für die Ostsee (wie auch immer das Modell gerade darauf kommt…). Wer sich die Prognose der einzelnen Modelle anschauen möchte, kann dies hier tun. Die oben gezeigte Variante ist also die wahrscheinlichste, da von den aus Erfahrung vertrauenswürdigsten Langfristmodellen (NCEP, EZMWF) gestützt. Fügen wir der Vollständigkeit halber gleich noch die dazugehörige Niederschlagsprognose hinzu:
Die Konzentration der positiven Niederschlagsabweichung auf das Gebiet rund ums Nordmeer und auf Skandinavien deutet auf rege Tiefdrucktätigkeit in diesem Bereich hin, die maximale Spitze an der norwegischen Küste auf häufigen Weststau. Hingegen wird Südeuropa tendenziell zu trocken gerechnet, offenbar gibt es also eine gut ausgeprägte Westdrift zwischen dem Subtropenhoch und den Tiefdruckgebieten im Norden. Mitteleuropa ist beim Niederschlag unauffällig bis leicht zu trocken und weist in den meisten Modellen eine Temperaturabweichung zwischen +0.5 und 1 Grad auf – wohlverstanden zum bereits milderen Modellklima 1993-2016, was schlussendlich gegenüber 1961-90 deutlich mehr als +1 Grad, regional sogar +2 Grad ausmacht. Betrachtet man die gesamte Modellpalette, so stehen die Chancen für einen durchschnittlich temperierten Winter nach der neuen Klimanorm in Westeuropa am besten. Allerdings dümpelt nach dem Mittel aller acht Modelle die Wahrscheinlichkeit, dass der Winter im untersten Drittel der Klimavariabilität landet (was wir gemeinhin unter einem strengen Winter verstehen), gerade mal um 20 % herum:
Es gilt also wie bei fast allen Prognosen: Völlig ausschliessen kann man nix, viel Geld auf einen Kaltwinter wetten wäre aber riskant. Wir wollen es uns aber nicht so einfach machen und versuchen wie jedes Jahr, den Ursachen für die vorliegende Prognose auf den Grund zu gehen – vielleicht können wir ja noch das eine oder andere Detail herauskitzeln.
Unsere treue Leserschaft weiss es natürlich längst, für alle anderen sei aber noch mal darauf hingewiesen, dass der Charakter des Winters in Europa zum grössten Teil durch die Verhältnisse auf dem Nordatlantik geprägt wird, unter anderem durch den NAO-Index (nordatlantische Oszillation), welcher vereinfacht gesagt das Verhältnis zwischen Islandtief und Azorenhoch ausdrückt. Sind beide Druckgebiete überdurchschnittlich stark, ist der NAOI positiv und häufige Westlagen sorgen für einen überwiegend milden Winter. Sind die Druckunterschiede schwach und damit auch die Westdrift, haben kalte Nord- und Ostwinde bessere Chancen, den Winter in Europa zu prägen, oder Hochdruckgebiete über Europa produzieren eine eigene bodennahe Kaltluftschicht, in diesem Fall wäre es nur auf den Bergen mild und folglich auch schneearm. Bezogen auf die obige Prognose ist die Zuordnung zu NAO+ oder NAO- nicht eindeutig: Das nasse Nordeuropa deutet auf positive NAO hin, das trockene Mittel- und Südeuropa eher auf negative NAO, kein Signal deutet aber in eine klare Richtung. Wahrscheinlicher ist es, dass der NAO-Index um den neutralen Wert herumpendelt, also mal in den positiven, mal in den negativen Bereich ausschlägt, was auf variantenreiche Grosswetterlagen in diesem Winter hindeutet. Gestützt wird diese Theorie durch die globale Betrachtung der aktuellen Wassertemperaturen:
Bereits das zweite Jahr in Folge starten wir mit einem deutlichen La Niña in den Winter. Wie wir im vergangenen Jahr gesehen haben, ist keine direkte Wirkung auf die Witterung in Europa gegeben, aber es gibt in diesem Jahr eine wahrscheinliche Kettenreaktion: Im Nordpazifik tendiert das Temperaturmuster hin zu einer PDO-Kaltphase (PDO = Pacific decadal oscillation). Zu dessen Vollendung fehlt noch eine durchgehende Kaltwasseranomalie der gesamten Westküste Nordamerikas entlang, der Temperaturunterschied zwischen dem Golf von Alaska und dem Gebiet südwestlich davon bewirkt jedoch bereits jetzt eine starke Tiefdruckaktivität (die aktuellen Überflutungen im Nordwesten Amerikas zeugen davon). Dem Gesetz des downstream development folgend installieren sich die Druckgebiete wie in der Karte eingezeichnet. La Niña geht somit häufig mit einem warm-trockenen Winter im Süden der USA einher, während Austrogungen zwischen den Grossen Seen und der Ostküste für einen nassen Winter besorgt sind. Entsprechend treten Aufwölbungen des Azorenhochs nach Norden (nordatlantischer Rücken, atlantic ridge = ATR) häufiger auf, was Phasen mit negativer NAO bewirkt. Dies wiederum begünstigt stärkere Tiefdruckentwicklung über dem europäischen Nordmeer und über Skandinavien, derzeit auch noch unterstützt durch eine deutliche Temperaturdifferenz in der Barentssee – und schon sind wir beim gezeigten Muster unserer Winterprognose.
Trotz aller Unkerei deutet derzeit (noch) nichts auf eine Schwächung des stratosphärischen Polarwirbels hin, der ist nämlich pumperlgsund:

Quelle und fortlaufende Aktualisierung: http://www.atmos.albany.edu
Rechnen wir also mit einem abwechslungsreichen Winter mit milden Westlagen (auf das Weihnachtstauwetter ist fast immer Verlass) und kälteren Einschüben aus Nord sowie längeren trockenen Hochdruckphasen, so dürften wir wohl kaum enttäuscht werden. Die etwas höheren Wassertemperaturen sowohl auf dem Atlantik wie auch in den europäischen Rand- und Binnenmeeren werden wohl dafür sorgen, dass die wärmeren Phasen die kalten mehr als ausgleichen und die eingangs gezeigte Temperaturbilanz wahrscheinlich wird. Extrem schneereich wird der Winter in den Alpen voraussichtlich nicht, aufgrund der Tendenz, dass Nordlagen häufiger auftreten als Südlagen, ist der Alpennordhang aber diesbezüglich bevorteilt.
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Microwave am 20. November 2021 um 22:55 Uhr
Hoi Federwolke, danke für deine Einschätzung. Also wohl so etwa wie Nichtwinter 2019/2020… Achja, was ist eigentlich die Bedeutung vom Modellklima bei diesen Rechnungen, und werum tut (muss?) man jetzt dort die wärmere Periode nehmen? Ich nehme nicht an dass das sein soll damit die Erwärmung nicht mehr so auffällt..?
Grüsse – Microwave 🙂
Fabienne Muriset am 21. November 2021 um 11:39 Uhr
Hoi Microwave
Ich kann nur spekulieren, was die Klimanormperiode angeht, die mit 1993-2016 etwas willkürlich erscheint. Vermutlich hat man einfach den kleinsten gemeinsamen Nenner genommen, da die Modelle ja zu unterschiedlichen Zeitpunkten entwickelt wurden und die verschiedenen Organisationen nicht alle über gleich weit zurückliegende Daten verfügen.
Grüsslis
Fabienne