Als Joran wird in der Westschweiz ein Fallwind bezeichnet, der vom Jura her ins Mittelland vorstösst und dabei besonders am Neuenburger- und Bielersee stürmisch auftritt. Berüchtigt ist seine Böigkeit speziell bei Fischern und Wassersportlern, es kommt im Zusammenhang mit dem Joran immer wieder zu Bootsunfällen. Am 13. Juni 2013 machte der Joran wegen seiner zerstörerischen Kraft am Eidgenössischen Turnfest in Biel Schlagzeilen. Die Eröffnungsfeier musste abgesagt werden, rund 4000 Personen wurden vom Festgelände evakuiert. Wie durch ein Wunder wurden nur drei Personen leicht verletzt. Dieser Beitrag befasst sich mit der Dokumentation des Ereignisses in der Region Erlach zwischen Neuenburger- und Bielersee.
Einleitend sollen über die generelle Synoptik des Joran ein paar Worte verloren werden. Bei der lokalen Bevölkerung wird als Joran generell ein Bergwind bezeichnet, der vom Jura her weht. Diese Windrichtung kann jedoch verschiedene synoptische Ursachen aufweisen:
1. Der Tagesgang des lokalen Windsystems bei sommerlichen Hoch- oder Flachdrucklagen, bedingt durch Hangthermik tagsüber und Abfliessen in den Abendstunden (Berg-Tal-Windsystem), das teilweise durch See-Land-Windeffekte überlagert wird. In Biel wird dieser abendliche Wind auch “Tubelöchler” genannt, weil er besonders spürbar aus der Taubenlochschlucht weht.
2. Regionaler Druckausgleich zwischen Juranord- und -südfuss in den Abendstunden bei Hoch- und Flachdrucklagen im Sommer, aber kaum von Gewittern begleitet (auch Joran statique genannt).
3. Grossräumiger Druckausgleich zwischen Juranord- und -südfuss bei entlang der Burgunderpforte und des Juranordfusses entlang ziehender Gewitter, hauptsächlich im Sommer auftretend (Joran d’orage).
4. Joran dynamique, auch Joran de front froid genannt. Ursache ist eine aus West bis Nordwest heranrückende Kaltfront mit nachfolgender kühler Atlantikluft, die den Jura und das Mittelland überquert. Tritt zu allen Jahreszeiten auf und kann in seltenen Fällen ein bis zwei Tage anhalten. In diese Kategorie gehört der hier geschilderte Fall.
Folgende Karte zeigt einen Überblick über die Region. Der gelbe Stern bezeichnet den Standort der Beobachtung, die blauen Pfeile das Auftreten des Fallwindes. Mit Stickern markiert sind die meteorologischen Messstationen, die in der Folge erwähnt werden.
Die Wetterlage präsentierte sich am 13. Juni 2013 wie folgt: Ein Höhenrücken sorgt tagsüber in der Schweiz für sehr sonniges und sommerlich warmes Wetter. In der Höhe herrscht eine sehr warme Südwestströmung, während sich gegen Abend aus Westen eine Kaltfront dem Jura nähert:
Auf dieser Karte ist bereits der thermisch bedingte Luftdruckunterschied zwischen Frankreich und der Ostschweiz zu erkennen. Da kalte Luft schwerer ist als warme, herrscht unter der Kaltluft in Frankreich Hochdruck, während unter der Warmluft in Süddeutschland und im Alpenraum tieferer Luftdruck vorherrscht. Man beachte aber dabei, dass dieses Globalmodell die Drängung der Isobaren an der Kaltfront nur ungenügend auflöst. Die Front selbst ist hingegen recht gut dargestellt (rote Warmluft vs. grüne bzw. blaue Kaltluft). In der Tat herrschte um 18z (20:00 MESZ) zwischen Fahy am Juranordfuss und Cressier am Jurasüdfuss beim auf Meereshöhe reduzierten Luftdruck ein Unterschied von ca. 6 hPa, dies bei einer Luftlinie von lediglich 42 km!
Diese Wetterlage wurde bereits zwei Tage zuvor von den Wettermodellen recht einheitlich und gut simuliert, sodass von einer geradezu komfortablen Vorwarnzeit des Ereignisses gesprochen werden kann. Leider drehte sich die Prognosediskussion nicht nur bei etlichen Wetterdiensten, sondern auch unter den Hobbymeteorologen noch bis wenige Stunden vor Eintreffen des Ereignisses um mögliche Schwergewitter. Dabei wurde von Seite der Autorin mittels folgender Prognosekarte bereits am Mittwochabend darauf hingewiesen, dass für eine derartige Entwicklung die Schichtung zu stabil sei, da die Höhenkaltluft weit im Nordwesten verbleiben würde:
Die Faustregel, dass eine Temperaturdifferenz von 27 Grad zwischen dem 500-hPa-Niveau (in diesem Fall -12 °C in beachtlichen ca. 5800 m Höhe) und dem 850-hPa-Niveau (+15 °C in ca. 1500 m) nicht für die Auslöse von verbreiteten Gewittern ausreicht, hat auch in diesem Fall sehr gut gestimmt. So zog einzig eine relativ harmlose Gewitterzelle am frühen Abend dem Nordjura entlang in Richtung Basel, auch die späteren Gewitter entlang der Voralpen blieben schwach und kurzlebig.
Doch nun zur chronologischen Dokumentation des Ereignisses, angefangen mit einem Satellitenbild von 17:00 MESZ:
Die markante Kaltfront über Frankreich weist nur einen sehr schmalen Streifen konvektiver Bewölkung an der Stirn des Kaltluftpolsters auf, der nachfolgende breite Streifen flacher Bewölkung unterscheidet sich markant von den Haufenwolken an deren Ostrand. Dies ist ein untrügliches Zeichen, dass sich die Kaltluft sehr seicht unter die Warmluft schiebt. Über dem Jura kaum erkennbar befindet sich die orografisch bedingte Quellbewölkung. Die Frage war, ob beim Eintreffen der Kaltluft auf das Hindernis der Juraberge die Konvektion ausreichend verstärkt würde, um Gewitter auszulösen…Zur selben Zeit präsentiert sich die Lage an der Wetterstation Cressier so:
Der Blick nach Südwesten zeigt das noch wolkenfreie Mittelland, die Quellbewölkung über dem Jura und die darüber aufziehenden Cirren der Kaltfront. Aussergewöhnlich für die Jahreszeit und die warme Luft war auch die gute Fernsicht, was der Wert von 41 % der relativen Luftfeuchtigkeit bestätigt (entspricht einem Taupunkt von 13.5 Grad, also deutlich weniger als von den Modellen gerechnet). Die Luft nimmt zwar vom Boden viel Feuchtigkeit auf, diese wird aber mit dem stetig wehenden Südwestwind gut weggetragen. Diese Wetterstation wird im weiteren Verlauf die höchste Windgeschwindigkeit dieses Sturmereignisses in der Schweiz messen.
Die Übersicht über alle Messstationen mit Sturmböen über 75 km/h findet man hier (mit bestem Dank an Kai Kobler).
Fazit: Eines der eindrücklichsten Joran-Ereignisse der letzten Jahre. Die Warmluft in der Höhe erzeugte eine Inversion, welche nicht nur Gewitter weitgehend verhinderte, sondern dadurch die Entladung der Energie aus dem Temperaturgefälle statt in die Vertikale voll in die Horizontale kanalisierte. Die Inversion wirkt wie ein Deckel auf die unteren Luftschichten, die Kaltluft musste sich zwischen der Inversion und den Juraketten förmlich durchzwängen. Trotzdem wurde nicht etwa auf dem Gipfel des Chasseral (96 km/h) die höchste Windgeschwindigkeit erreicht, sondern am Jurasüdfuss. Das ist ein typisches Verhalten der schweren Kaltluft, die nur ungerne klettert und sich den Weg des geringsten Widerstandes sucht. Die höchsten Geschwindigkeiten direkt am Hindernis werden auf Pässen und Taleinschnitten erreicht, welche jedoch im Jura in NW-SE-Richtung nur spärlich vorhanden sind. Erst nach dem Überwinden des Kulminationspunktes wird der Wind im Fallen beschleunigt und trifft so mit voller Wucht auf die Jurarandseen.