Spielt das Wetter immer häufiger verrückt? Diese Frage wird nicht erst seit 2024 gestellt, wo der Frühling Ende Januar begann, der Sommer Anfang April Einzug hielt und sich der Winter in der zweiten Aprilhälfte für mehr als eine Woche noch mal so richtig gemütlich in Mitteleuropa einrichtet. Die Antwort ist einfach: Ja, es spielt sehr häufig verrückt, und hat es schon immer getan. Wäre dem nicht so, wäre ich nie auf die Idee gekommen, die Meteorologie zu meinem Beruf zu machen. Mein Interesse am “verrückten” Wetter wurde Mitte der 80er Jahre geweckt, als Kälterekorde im Winter noch Thema waren, Sommer-Unwetter wie heute auch wieder die halbe Schweiz verwüsteten und die wärmsten Tage des Jahres erst Mitte September verzeichnet wurden. Ein Blick in die Temperaturstatistik der letzten 160 Jahre soll zeigen: Das Verrückte ist häufiger, als man denkt, und keinesfalls neu.
Für unsere Betrachtung wurden 160 Jahre homogenisierte Temperaturmesswerte von fünf Stationen gemittelt, welche die Schweizer Alpen repräsentieren. Dabei wurde sowohl auf die geographische wie naturräumliche Verteilung geachtet: Der exponierte Voralpengipfel ist ebenso vertreten wie die Passlage im Südwesten der Schweiz, dazu drei bewohnte Orte in inneralpinen Tälern im Wallis, im Urnerland und im Engadin. Die satt rot und blau unterlegten Werte sind die heute gültigen Rekordmonate, -jahreszeiten und -jahre, pastellfarben unterlegt sind die jeweiligen Top 10. Farbige Zahlen heben Werte hervor, die zwar wegen der stetigen Klimaerwärmung nicht mehr in den Top 10 rangieren, aber in ihrer Klimanormperiode ausserhalb der Standardabweichung aussergewöhliche Werte aufweisen. Die eingerahmten Werte zeigen zur Jahreszeit verkehrte Temperaturverläufe und aussergewöhnliche Konstellationen auf. Diese werden weiter unten zusammengefasst. Eine analoge Auswertung haben wir in einem früheren Blogbeitrag für die Niederungen der Alpennordseite vorgenommen.
Von den 160 Jahren weisen nur gerade drei (1927, 1964 und 1967) keine besonderen Auffälligkeiten auf, in den Niederungen der Alpennordseite sind es immerhin 24. Diese Diskrepanz zeigt, dass stark von der Norm abweichende Temperaturschwankungen in den Hochlagen weitaus häufiger vorkommen als in den Niederungen. Dies liegt vor allem daran, dass in höheren Lagen die Luftmassen im “Orignalzustand” ankommen, also weitgehend unbeeinflusst vom Meer, das die untersten Luftschichten im Winterhalbjahr mildert und im Sommerhalbjahr kühlt, und vom Boden, der sich im Sommerhalbjahr stark aufheizt und die Wärme an die untersten Luftschichten abgibt (auch als überadiabatische Erwärmung bekannt). Andersrum kühlt die Luft in in den Talböden bei Hochdrucklagen nachts sehr stark aus, was durch das trockenere inneralpine Klima zusätzlich begünstigt wird. Extremwetter ist also in den Alpen mehr oder weniger der Normalzustand.
Die auffälligsten Witterungsanomalien der letzten 160 Jahre nach Jahreszeiten gegliedert ergeben folgende Zahlen:
Beziehung Winter –> Vorfrühling:
– März kälter als Februar: 27 Fälle, (Niederungen Alpennordseite, in der Folge als NA abgekürzt: 10 Fälle)
– März kälter als Januar: 25 Fälle (NA 8)
– davon März kälter als Januar UND Februar: 10 Fälle (NA 2)
– April kälter als Februar und März: 1 Fall im Jahr 1903 (NA 0)
Verkehrte Temperaturverläufe Frühling:
– April kälter als März: 8 Fälle (NA 8)
– Mai kälter als April: 2 Fälle (NA 5)
– Juni kälter als Mai: 3 Fälle (NA 9)
Auffällige Sommer-Anomalien:
– Jahre ohne Sommer (wärmster Monat kälter als 8.0 Grad): 5 Fälle, letztmals 1966 und 1965
– Juli kälter als Juni: 16 Fälle (NA 24), davon Juni wärmster Monat des Jahres: 5 Fälle (NA 16)
– September wärmster Monat des Jahres: 2 Fälle (NA 1)
Verkehrte Temperaturverläufe Herbst:
– September wärmer als August: 10 Fälle (NA 2)
– Oktober wärmer als September: 3 Fälle (NA 2)
– November wärmer als Oktober : 2 Fälle (NA 0)
– Dezember wärmer als November: 11 Fälle (NA 13)
Verdeutlicht wird hier die Tatsache, dass die Luft in höheren Schichten träger auf den Sonnenstand reagiert als in den Niederungen: Sowohl beim Übergang vom Winter in den Frühling wie auch vom Sommer in den Herbst sind verkehrte Temperaturverläufe in den Hochlagen deutlich häufiger, während sie im späten Frühling und im Spätherbst seltener vorkommen.
Besonderheiten, die aufgrund der Klimaerwärmung erstaunen:
– Inmitten einer extrem warmen Periode sticht der August 2006 als aussergewöhnlich kalt hervor
– Anders als in den Niederungen, wo sich Wärmerekorde für Mai und Dezember aus der Kleinen Eiszeit hartnäckig zu halten vermögen (1868), wurden diese in den Hochlagen alle in den letzten 20 Jahren übertroffen. Die ältesten stammen nun aus 2003 (Juni, August und Gesamtsommer).
Fakten, welche die Erwärmung besonders verdeutlichen:
– Der Sommer 1928 war der erste, der ein Mittel von 10.4 Grad erreichte. Danach folgten noch drei bis 1990, in den letzten 20 Jahren hingegen verfehlten nur sieben die 10-Grad-Marke meist um wenige Zehntel, am deutlichsten 2014 mit 9.1 Grad. Heute liegt das gleitende 30-jährige Mittel bei 10.4 Grad.
– Das gleitende 30-jährige Mittel für das Gesamtjahr liegt heute bei 2.3 Grad. Vor 1989 gab es kein einziges Jahr, das diesen Schnitt erreichte.
– Das aktuelle gleitende 30-jährige Mittel liegt in den Hochlagen 2.0 Grad höher als die Normperiode 1871-1900, in den Niederungen der Alpennordseite 2.2 Grad. Das globale Ziel, die Klimaerwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit unter zwei Grad zu beschränken, kann in der Schweiz also bereits nicht mehr erreicht werden.
Fazit: Wetterkapriolen, insbesondere Witterungsphasen mit stark abweichenden Monaten von der jeweils langjährigen Norm sind fast an der Tagesordnung und kein Beweis für oder gegen die Klimaerwärmung. Diese manifestiert sich aber in der deutlichen Zunahme der Temperatur über die Jahrzehnte hinweg, ebenso die Tatsache, dass inzwischen fast alljährlich Rekorde in die warme Richtung gebrochen werden, jene in die kalte Richtung aber seit den 1970er-Jahren völlig ausbleiben.
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