Nach einem rekordwarmen September fällt die Temperatur Anfang Oktober in Mitteleuropa schlagartig auf spätherbstliches Niveau, und bereits wird über die Aussergewöhnlichkeit der Wetterlage diskutiert und auch darüber spekuliert, ob dies der Beginn eines besonders strengen Winters sein könnte. In der Tat ist die aktuelle Grosswetterlage eher untypisch für den Herbst, und doch trat sie in den letzten 15 Jahren im September oder Oktober immer häufiger auf. Vieles deutet darauf hin, dass das Wetter im Herbst aufgrund der zunehmend eisfreien Arktis verrückt spielt. Im Englischen nennt man dieses Phänomen WACCy (Warm Arctic – Cold Continents). Das y wird spasseshalber angehängt, damit es dem Wort wacky (= verrückt) ähnelt. Doch wie genau kommt WACCy zustande und was bedeutet es für das Wetter in Mitteleuropa?

Die Abweichung der Lufttemperatur 2 m über Boden im Vergleich zur Klimanorm 1981-2010 vom 06.10.2016
Der Blick auf die Karte mit den aktuellen Abweichungen der Lufttemperatur gegenüber dem langjährigen Mittel (rot = zu warm, blau = zu kalt) verdeutlicht das Phänomen der warmen Arktis und den kalten Kontinenten sehr eindrücklich. Während die grössten Teile Sibiriens, Europas und Nordamerikas bereits stark ausgekühlt sind, erleben Grönland und die an den arktischen Ozean angrenzenden Gebiete aussergewöhnliche Wärme. Der Wärmeüberschuss ist eine Folge der stark geschrumpften Eismasse in der Arktis, wir haben in einem früheren Beitrag darüber berichtet. Einen knappen Monat nach dem jährlichen Minimum der Eisausdehnung hat sich die Situation noch nicht wesentlich verändert. Die am Nordpol eingetretene Polarnacht hat zwar dafür gesorgt, dass sich die offenen Wasserflächen zwischen den Eisschollen inzwischen geschlossen haben, doch der Normalzustand der Arktis ist deswegen noch lange nicht wiederhergestellt, wie folgende Karte zeigt:
Hier ist die Abweichung der Oberflächentemperatur von Wasser und Eis der ersten vier Oktobertage gegenüber der Klimanorm dargestellt. Wir erkennen eine abnormal hohe Eistemperatur rund um den Nordpol und im Südwestquadranten sowie um zwei bis fünf Grad wärmeres Wasser im eisfreien arktischen Ozean. Die grosse eisfreie Fläche, die noch vor wenigen Jahren um diese Jahreszeit zum grössten Teil aus sich rasch verdichtendem Treibeis bestand, gibt heute bis weit in den Herbst hinein Wärme an die darüber liegende Luft ab. Die Produktion kalter Luftmassen über dem Arktischen Ozean verspätet sich damit immer mehr, während über den grossen Landmassen die Luft in den zunehmend langen Nächten stark auskühlt. Der Arktische Ozean verhält sich bedingt durch den Eismangel mittlerweile wie ein Meer der gemässigten Breiten: Die Energieabgabe vom Wasser an die Luft bewirkt, dass sich über der Arktis wie sonst üblich im Nordatlantik und Nordpazifik Tiefdruckgebiete bilden. Die Advektion relativ warmer und feuchter Luft auf die angrenzenden kühlen Landmassen erzeugt dort Schneefälle, wodurch sich an den Nordrändern der Kontinente im Herbst viel rascher eine Schneedecke bildet. Das wiederum beschleunigt die Kaltluftproduktion vor Ort und WACCy ist Tatsache – Jahr für Jahr in immer extremerem Ausmass. Diese neue Verteilung von Wärme und Kälte wirkt sich grossräumig auf die Bildung von Hochs und Tiefs und die damit einhergehenden Strömungsverhältnisse aus.
Verdeutlichen kann man dies mit einem Vergleich der aktuellen Situation mit einem Oktober, der in Mitteleuropa bezüglich Temperatur- und Witterungsverlauf noch nahe an der Klimanorm lag. Zu diesem Zweck stellen wir die Karten jeweils vom 6. Oktober der Jahre 2008 und 2016 gegenüber:
Wir erkennen Anfang Oktober 2008 einen relativ gesunden Polarwirbel (kompakte grün-blaue Fläche mit nur wenig ausgeprägten Beulen und Dellen). Hochdruckgebiete sind über dem Arktischen Ozean wetterbestimmend, die kräftigen Tiefdruckgebiete gruppieren sich gleichmässig über die gemässigten nördlichen Breiten (Aleuten, Island, Skandinavien, Zentralsibirien). Über dem Atlantik herrscht eine gesunde Westwinddrift, die in Europa für wechselhaftes Herbstwetter mit vielen Niederschlägen, nass-kühlen und während der Zwischenhochphasen sonnig-milden Tagen sorgen. Dabei sei darauf hingewiesen, dass dieser “normale” Oktober auf einen aussergewöhnlich kühlen September folgte. Die Grosswetterlage von Anfang Oktober 2016 gab es 2008 auch – nur drei Wochen früher. Wir dürfen dies im Hinblick auf die weitere Entwicklung im Hinterkopf behalten…
Völlig anders die Situation Anfang Oktober 2016: Der Polarwirbel ist völlig zerfleddert. Anstelle eines Hochs über dem Nordpol steht ein aktiver Tiefdruckwirbel. Hochdruckgebiete liegen dort, wo normalerweise die Tiefs sitzen sollten: Über Alaska, Zentralsibirien und – für unser Wetter besonders wichtig – ein besonders kräftiges Exemplar über Skandinavien. Einzig an der Südspitze Grönlands und über dem Nordpazifik konnten Tröge den Kontakt zum Polarwirbel halten, die übrigen haben sich von der schwachen Westdrift abgeschnürt und führen als Kaltlufttropfen wie jener über Osteuropa ein eigenwilliges Leben. Das für die Jahreszeit rekordverdächtig starke Hoch über Skandinavien wird durch die warme Südströmung auf der Vorderseite des Atlantiktrogs am Leben gehalten, während sich an der Ostflanke besagten Hochs ein Kaltlufttropfen vom Trog über der Barantssee abgeschnürt hat und auf dem Weg nach Mitteleuropa sibirische Kaltluft hinter sich herzieht.
Weiter oben wurde es bereits angetönt: Ähnliche Wetterlagen gab es in den letzten Jahren im Herbst häufig, während die Statistik der Grosswetterlagen nach Hess & Brezowsky von 1881-2008 genau diesen Grosswettertypen in den Herbstmonaten noch am schwächsten auswies. HNFz, das Kürzel für den etwas umständlichen Begriff Hoch Nordmeer-Fennoskandien in Mitteleuropa überwiegend zyklonal und seine verwandten Grosswetterlagen (Ost bis Nordost) sind eigentlich typische Frühlingserscheinungen. Nicht mehr so in der Zeit des neuen Klimas, an das wir uns gegenwärtig zu gewöhnen gezwungen werden:
2015: Ein Skandinavienhoch ermöglicht Mitte Oktober das Abtropfen eines Tiefs nach Mitteleuropa, es folgen vielerorts die frühesten Schneefälle bis in die Niederungen seit Jahren
2010: Ein Hoch über dem Nordmeer erzeugt Mitte Oktober einen kräftigen Trog über Mitteleuropa, in den Ostalpen fällt Schnee bis in die Täler
2009: Eine zyklonale Nordlage beendet den bis Anfang Oktober herrschenden Spätsommer abrupt mit Schneefall bis in tiefe Lagen
2008: Nach warmem Septemberbeginn stellt sich am 12.09. HNFz und nachfolgend Nordost zyklonal ein, die Kälteperiode dauert bis Ende September
2007: 18.-26.10.: Ein sich über den Britischen Inseln bildendes Hoch etabliert sich in der Folge über Skandinavien = HNFz
2005: Mitte Oktober etabliert sich ein Skandinavienhoch – diesmal bleibt aber Mitteleuropa hochdruckbestimmt und relativ warm = HNFa
2003: Nach dem Rekordsommer dominieren zuerst Nordwest-, später Nord- und Ostlagen den Oktober mit Kälte und frühen Schneefällen
2002: Von Ende September bis Mitte Oktober herrschen kalte Nordwest-, Nord- und Ostlagen. HNFz ist vom 8. bis 14. Oktober vorherrschend
Fast all diese Herbstkapriolen der jüngsten Vergangenheit haben eine Gemeinsamkeit: Es folgten nach zwei- bis dreiwöchiger Kältephase häufig West- und Südwestlagen mit milden Luftmassen sowie hochdruckbestimmte Phasen (zu dieser Jahreszeit in den Niederungen allerdings nebelanfällig) mit insbesondere im Alpenraum trockenen und sonnigen Wochen, gemeinhin auch als Martinisommer bekannt. Die darauf folgenden Winter waren von sehr unterschiedlicher Charakteristik, sodass aus dem frühen WACCy keine Regel für strenge Winter abgeleitet werden kann. Dafür sind ganz andere Faktoren ausschlaggebend, die wir anlässlich unserer Winterprognose im Spätherbst behandeln werden.
Doch wie geht es mittelfristig weiter mit unserem WACCy 2016? Das kräftige Skandinavienhoch und der Kaltlufttropfen über Mitteleuropa bilden eine sogenannte High-over-Low-Lage, die noch mindestens eine Woche Bestand hat. Dies bedeutet für die Jahreszeit deutlich unterkühlte Luftmassen aus östlicher bis nordöstlicher Richtung mit unbeständigem Wetter, aber wahrscheinlich nur geringen Niederschlägen. Da Kaltlufttropfen ein sehr eigenwilliges Leben führen und gleichzeitig über dem Atlantik diverse Hurricanes toben, deren Eingliederung in die Westwindzone immer für Überraschungen sorgen kann, ist die weitere Entwicklung aus der verfahrenen Situation völlig offen. Massgeblich wird sein, wie lange das Hoch überlebt und ob es allenfalls seine Position verschiebt. Einige Modelle rechnen eine retrograde Verlagerung auf den Atlantik hinaus, was Europa eine Winddrehung von Ost auf Nord bescheren würde – frühe Schneefälle sind möglich. Ebenso wahrscheinlich ist aber eine sehr langsame Abschwächung an Ort und Stelle, womit der Westwind südlich über Mitteleuropa durchtauchen könnte. Die dritte Variante zeigt eine Aufsteilung der Hochachse mit Blockade von Tiefs über Westeuropa, das hätte für uns warme Südlagen zur Folge. Die Ensembles von GFS zeigen die Variationsbreite ab der Monatsmitte eindrücklich mit Streuung der Temperatur in rund 1500 m um 20 Grad:
Ein Beweis mehr dafür, wie sehr Wettermodelle mit verrückten Lagen ihre Mühe bekunden. Die Situation WACCy bereits im zeitigen Herbst ist eine relativ neue Geschichte, Erfahrungen damit stehen somit auf tönernen Füssen, und so extrem warm wie in diesem Jahr war die Arktis noch nie. Das hat bereits im Frühjahr für dicke Überraschungen gesorgt und es wäre verwunderlich, wenn diese in den nächsten Wochen ausbleiben würden.
Bannmüller Michael am 7. Oktober 2016 um 09:19 Uhr
– Ich Danke sehr für diesen Beitrag!- in spannungsvoller Erwartung der nächsten Analyse: Bannmüller M., Hochachtungsvoll!
Klaus am 7. Oktober 2016 um 14:40 Uhr
Hallo
Sehr Interessanter Bericht. Ich meine zu behaupten, dass auch eine ähnliche Wetterlage von Mitte Mai 2016 bis ende Juni 2016 die schwere Unwetterlage ausgelöst hat. Es waren damals bedingt höhentiefs die durch die bodennahe Ostströmung über Wochen in mäßig-warmer Witterung zu schweren Unwettern führte. Die Jüngste Unwetterserie Sommer 2016 hatte zu dem eine bislang unbekannte Dauer und war selbst für Meteorologen Überraschend lange und stark.
Die letzten Jahre haben den Herbst eigentlich vom typischen Herbst immer weiter entfernt. Es gab oft langweiliges Hochdruckwetter mal mehr mal weniger Warm. Die Typischen Herbststürme wie 1998,2000,2002,2006 eventuell noch 2013 nehmen dagegen immer weiter an Intensität ab.
Nur der Winter 2014/2015 brachte für Deutschland nennenswerte Stürme im Januar und März 2015. Die Stürme aus dem Herbst 2013 waren nur den Küsten vorbestimmt.
Somit hat auch das neue verrückte Herbstwetter Einfluß auf die Wirkung der Sturmtiefs. Die letzten Jahre brachten seit 2007 eine Abnahme der Sturmtief-Saison für Deutschland mit sich. Es gab zwar wieder mehr Stürme nachdem Kaltwinterblock 2008-2013 aber noch verhältnismäßig gering im Gegensatz zu den 90er,80er und 70er Jahren.
Und sollte sich jetzt, wovon ich ausgehe, der nächste Kaltwinterblock anbahnen ( 2016-2020 ? )so dürften das Sturmpotential für Mitteleuropa weiter enorm Absinken und höchsten an den Küsten für schwere Sturmböen sorgen, das Flachland dagegen darf sich dann mit stürmischen Böen langweilen.
Für mich, der in den 80er zu Welt kam und die 90er Stürme miterlebt hat und diese Prägend waren und so zu meiner Favorisierten Wetterlage gehören, ist diese neue Entwicklung der Großwetterlagen einfach Bitter und zunehmend Öde.
Naja wenigsten werden im Sommer die Gewitterlagen immer Interessanter ( 2014 ELA, Münsterland-Hochwasser )und ( 2016 Rekordverdächtige Unwetterserie ).
Ich glaube nicht im Gegensatz zu vielen anderen an einen vierten Mildwinter !
Mein Bauchgefühl und mein Tipp für den Winter 2016/2017 : Sehr Kalt und Ruhig mit Ost- und Nordlagen ! ( Circa -1,2 1961-1990 ).
Gruss.
Franz Zeiler am 25. Oktober 2016 um 06:52 Uhr
Danke für den fachlich hochinteressanten Bericht. Ich (bin Hobbymeteorologe)beschäftige mich bei meinen Wintertrendeinschätzungen seit 2 Jahren mit diesem Sachverhalt und verfolge auch die Studien zu dieser Thematik von Judah Cohen.
Die sibirische Schneedecke westlich des Urals hat sich aktuell überdurchschnittlich gut entwickelt, die Arktis “glüht” nach wie vor unter einem gestörten Polarwirbel. WACCy “at its best”.
Bin schon gespannt auf die weiteren Entwicklungen, wenn es in Richtung meteorologischen Winterbeginn geht.
Viele Grüße aus dem eingenebelten Osten Österreichs,
Franz