Am 6. Juli spielte ich nach langer Zeit wieder mal mein Lieblingsspiel aus der Jugendzeit: Gewitter jagen mit dem Fahrrad. Wie damals in den 80er-Jahren natürlich ohne die heute verfügbaren Hilfsmittel wie Niederschlagsradar und Blitzortung. Spielregel: wer nass wird, hat verloren (ein paar ausgewehte Tropfen sind erlaubt, da unvermeidlich). Gewonnen hat, wer trocken die meisten Kilometer zurücklegt und die schönsten Fotos mit nach Hause bringt. Dieser spielerischen Art, die Entwicklungszyklen und Eigendynamik von Gewittern kennen zu lernen, verdanke ich den Anfang meiner Berufskarriere und die Spezialisierung auf die Gewitterklimatologie der Schweizer Alpennordseite.
Machbar ist dies natürlich nur bei bestimmten Konstellationen mit Einzelzellen und Multizellen. In der nächsten Phase der Entwicklung mit Clustern oder bei breit aufziehenden Fronten steht man auf verlorenem Posten und setzt sich unnötiger Gefahr aus. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, dass man sich gut vorbereitet und nur in Gegenden unterwegs ist, wo man die örtlichen Gegebenheiten und besonders die Rückzugsmöglichkeiten gut kennt. Die Region Bern mit der zerstreuten Siedlungsstruktur im ländlichen Gebiet und dem dichten S-Bahn-Netz eignet sich dafür bestens.
Unter Berücksichtigung dieser Sicherheitsaspekte bietet das Gewitterjagen mit dem Velo gegenüber dem Chasing mit dem Auto etliche Vorteile: Man darf viel mehr Wege befahren, ist abseits des Verkehrs, kann überall anhalten und fotografieren, ohne im Weg zu stehen. Die beschränkte Mobilität fordert zu überlegter Routen- und Platzwahl heraus und man vermeidet es mit Vorteil, in den Core eines Gewitters zu geraten, wo ohnehin keine brauchbaren Bilder resultieren. Und nicht zuletzt ist es kostengünstig, naturschonend und man tut was für seine Fitness.
Die Lage am 7. Juli 2014 war optimal: Dank Föhn gute Fernsicht mit schönen Kontrasten und beste Voraussetzungen für Gewitterbildungen über den westlichen Voralpen, welche mit der Strömung aus Süd-Südwest in die Region Bern ziehen. Nun gilt es, die Zugbahnen der Gewitter richtig vorherzusagen (erfahrungsgemäss von den Freiburger Voralpen über das Schwarzenburgerland nach Bern) und sich östlich davon zu positionieren, allerdings ohne in die Entwicklungsgebiete der Emmental-Zellen zu geraten. Ich wählte dafür den Ostrand des Aaretals südöstlich von Bern aus (im Dreieck Worb-Konolfingen-Münsingen). Der folgende Radarloop zeigt schön, wie gerade dieses Gebiet von den Gewittern ausgespart wurde:

Quelle: Donnerradar Zoom, im kostenpflichtigen Abonnement erhältlich www.metradar.ch
Der erste Weg führte mich in das 200 m über dem Talboden gelegene Schlosswil, das beste Ausblicke in alle Himmelsrichtungen und durch Abfahrten schnelle Fluchtmöglichkeiten bietet. Prompt musste ich der ersten Schauerzelle ein paar Kilometer nach Süden ausweichen, um nicht getroffen zu werden. In Gysenstein bot sich mir um 16:35 Uhr das Bild einer nach Norden (rechts) abziehenden Schauerzelle und einer Neuentwicklung im Südwesten:
Weiter nach Osten konnte ich nicht ausweichen, denn auch hier gab es imposante Quellungen:
Also blieb nur der Weg nach Süden, wo ich oberhalb von Tägertschi die Lage weiter im Auge behielt und Zeit für eine kleine Stärkung blieb (16:45-17:00):
Bei diesem Anblick wurde schnell klar, dass die Gewitterproduktion aus den Freiburger Voralpen heraus so schnell nicht abreissen würde. Es stellte sich zunehmend die Frage nach dem richtigen Timing, um trocken zurück nach Muri zu gelangen… Zu diesem Zweck begab ich mich auf die regionale Radwanderroute, die der Bahnlinie Konolfingen-Bern entlang führt. Hier bot sich mir ein Anblick, der den Puls steigen liess. Nicht nur der Ästhetik wegen, sondern weil ich nun wusste, dass ich voll in die Pedale steigen muss (17:10 Uhr):
Die strukturierte Zelle im hinteren Schwarzenburgerland mit Aufwindbereich (links) und getrenntem Niederschlagsvorhang (rechts) liess auf eine kräftige Entwicklung schliessen. Hagel und Sturmböen sind bei solchen Strukturen nur noch eine Frage der Zeit. Doch spätestens 10 Minuten und 5 abgespulte Kilometer später war klar, dass ich das Rennen verlieren würde:
Nun ging es darum, nicht voll in den Niederschlag hinein zu fahren und sich einen guten Platz auszusuchen, um das Gewitter vorbeiziehen zu lassen und den richtigen Moment für die Weiterfahrt abzuwarten. In der Nähe der Station Worb SBB fand ich diesen Platz (17:25 Uhr) und liess den Aufwindbereich direkt über mich hinweg ziehen:
An dieser Stelle rief ich noch einem im Volltempo in Fahrtrichtung Bern bolzenden älteren Radfahrer zu, er solle sich nicht zu sehr beeilen, sonst fahre er voll hinein. „Jaja, ich sehe es!“ rief er mir zu und stieg weiter in die Pedale. Da wollte wohl jemand unbedingt schon geduscht zuhause ankommen 🙂
Ich meinerseits genoss die Dynamik und die schwarzen Wolkenstrukturen direkt über mir, ohne einen Tropfen abzubekommen. Um 17:35 sah ich die kleine Chance, richtig getimet die letzten 6 Kilometer bis nach Hause zu schaffen:
Zwischen dieser neu entstehenden Zelle und einem bereits südlich von mir aufrückenden Niederschlagsvorhang entschied ich mich, in die Lücke zu fahren. Tatsächlich war die Strasse bereits 1.5 km nach meinem Rastplatz nass. Ich fuhr die restliche Strecke bei Sonnenschein auf der dampfenden Fahrbahn einer Hauptstrasse, so schnell ich konnte. Nur 300 Meter vor meinem Ziel holte mich dann doch noch der Regen der nächsten Gewitterzelle ein – bin eben nicht mehr die Jüngste! 😉