An der Aare in Bern nimmt man das Hochwasser gelassen, hier passiert ausser ein paar überfluteten Uferwegen nicht viel. Weiter oben an den Zuflüssen im Berner Oberland, aber auch im Wallis und Teilen der Zentralschweiz laufen derweil die Aufräumarbeiten und man stellt sich angesichts der Zerstörungen die Frage: Warum wurden wir nicht gewarnt?
Die Frage nach den ausgebliebenen Warnungen ist berechtigt. Zwar wurden von mehreren Wetterdiensten Warnungen betreffend Starkregen ausgegeben, jedoch mit einer Warnstufe, welche niemals solch enorme Schäden erwarten liess. Auch fotometeo.ch machte im Newsblog am Sonntagnachmittag auf die prekäre Situation aufmerksam, das Augenmerk war allerdings mehr auf die Gebiete in der Ostschweiz und in Vorarlberg gerichtet, wo zuvor die grösseren Schneemengen gefallen waren. Hier standen bis zu 120 cm Neuschnee zur Diskussion, während weiter westlich nur zwischen 20 und 50 cm Schnee gemessen wurden. Dies war offenbar die erste Fehleinschätzung, denn in unzugänglichen Staugebieten ohne Schneehöhenmessung lag offenbar viel mehr, wie sich im Nachhinein herausstellte.
Die zweite Fehleinschätzung betraf die angekündigten Regenmengen der Warmfront in der Nacht auf Montag. Die meisten Modelle gingen von 40 bis 60 mm entlang und nördlich des Alpenhauptkamms vom östlichen Berner Oberland bis zum Arlberggebiet aus:
Dies war offenbar die Basis für die Warnung der Wetterdienste, welche aber nur das aktuelle Ereignis, also den neuen Regen bewarnen. Und hier kommt die Frage ins Spiel, ob Meteorologen nicht auch die Vorgeschichte mit dem in den Tagen zuvor gefallenen Schnee berücksichtigen müssen, oder ob sie dies alleine den Hydrologen überlassen. Beim Bund gibt es eine enge Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Disziplinen, trotzdem blieb die Warnung aus. Weshalb?
Und schon sind wir bei der dritten Fehleinschätzung: Das Ansteigen der Schneefallgrenze wurde in jenen Gebieten unterschätzt, wo der Niederschlag bereits am Abend und in der ersten Nachthälfte einsetzte. In der Westhälfte der Schweiz gab es am Nachmittag längere sonnige Abschnitte, die bodennahe Luftschicht wurde auf 10 bis knapp 15 Grad erwärmt. Als die Warmfront eintraf und der Regen einsetzte, lag die Schneefallgrenze bereits über 1000 Meter und stieg in den nächsten Stunden rasch bis auf über 2000 Meter an. Am Montagmorgen lag die Nullgradgrenze bereits knapp unterhalb des Jungfraujochs auf 3500 Meter. Der Augenschein vor Ort macht klar, dass nahezu der gesamte Schnee, der unterhalb von 2000 Meter lag, innerhalb von 12 Stunden vom Regen in den Abfluss gespült wurde. Dies hält der erprobteste Alpenfluss nicht aus und so erklären sich die Rekordabflüsse der Kander und der Lütschine.
Aber warum kaum Schäden weiter östlich, wo mehr Schnee lag und fast ebensoviel Regen mit der Warmfront fiel? Hier wirkte sich positiv aus, dass der Niederschlag erst in der zweiten Nachthälfte einsetzte. Zuvor konnte die Luft in den klaren Abendstunden noch mal deutlich abkühlen, in West- und Zentralösterreich wurden vielerorts Mindesttemperaturen um den Gefrierpunkt gemessen. Dies bewirkte ein gemächlicheres Ansteigen der Schneefallgrenze und somit auch eine zeitlich verzögerte Schneeschmelze. Die Hochwasserscheitel in der Ostschweiz und im Westen Österreichs wurden in die Länge gezogen und verursachten nur ein mässiges Hochwasser ohne grösseres Schadenpotenzial.
So ungewöhnlich die Wetterlage für den Oktober auch war: Sowohl wir Meteorologen wie auch die Hydrologen müssen einmal mehr Lehren aus diesem Fall ziehen (was diese Berufe ja gerade so interessant macht)! Die Gefahr beim Umgang mit Extremereignissen, welche maximal einmal pro Generation auftreten, besteht allerdings darin, dass das gewonnene Wissen mangels ähnlicher Fälle nicht angewendet werden kann und wieder vergessen geht. Umso wichtiger also, dass solche Fälle genau dokumentiert werden und in Zukunft in die Ausbildung jener Berufsleute einfliessen, welche die Bevölkerung rechtzeitig vor solchen Ereignissen warnen sollen.