Im statistisch gewitterreichsten Monat des Jahres sollte man eigentlich eine Gewittervorschau erwarten. Ich konnte aber auch mit dem Fernrohr am Modellhorizont keine ausmachen, also muss ein anderes Thema her. Hitze bietet sich an, ist seit etwa einer Woche gerade ganz hoch im Kurs in allen Boulevardmedien (und in ein paar seriöseren Blättern auch), Video-Kanälen und Wetterforen: Bringt Klicks und Aufmerksamkeit. Auch wenn die Schwerhitze immer „in etwa einer Woche“ kommen soll, sind sich selbst gestandene Meteorologen nicht zu schade, auf diesen Zug aufzuspringen und brav zu liefern, was das Hysterikerherz begehrt. Ganz nach dem Motto: Ist der Ruf (der Branche) mal ruiniert… Da wir hier nicht mit Werbung und den somit erforderlichen Klicks, sondern mit Information Geld verdienen wollen, können wir der Sache etwas objektiver auf den Grund gehen.
Schauen wir uns die Ausgangslage anhand der grossräumigen Strömungen in Europa mal an:
Derzeit befinden wir uns noch in einer Nord- bis Nordwestströmung (1) einer zu Ende gehenden GWL Hoch Britische Inseln. Das Hoch ist aus den Höhenkarten bereits verschwunden, denn vom Atlantik her drückt die Westströmung (2) und leitet in eine antizyklonale Westlage über. Dabei kalbt zum Ende der Woche ein Ausläufer des Azorenhochs und beschert uns ein (kleines) Hoch Mitteleuropa. Was den Modellen bereits seit einer Woche zu schaffen macht, ist das Tief vor Portugal, an dessen Vorderseite sehr heisse Saharaluft nach Norden geführt wird (3). Dieses unberechenbare Tief soll mal nach Osten in unsere Nähe rücken und uns die heisse Südströmung voll treffen, dann wieder wird eine Verlagerung nach Norden und Anschluss an die Frontalzone gerechnet, oder es bleibt einfach an Ort und Stelle bis es sich auffüllt. Jede dieser Szenarien hat bezüglich Temperaturen in Mitteleuropa ganz andere Auswirkungen, da die uns treffende Luftmasse mal aus Süden, mal aus Westen, mal aus Nordwesten stammt. Wir erinnern uns: Genau vor einem Monat hatten wir dieselbe Situation. Eine Hitzerechnung löste die andere ab, wurde ständig verschoben, bis sie dann schlussendlich doch brachial eintraf. Dies dürfte auch diesmal nicht anders laufen – das Problem dabei ist nur: Wir kennen den Zeitpunkt nicht. Letzten Donnerstag wurde ein stetiges Ansteigen der Hitze ab Mitte dieser Woche mit Höhepunkt am Wochenende gerechnet, inzwischen sind wir bei einer mässigen Hitze Mittwoch/Donnerstag und einer Abkühlung Freitag/Samstag angelangt, die eigentliche Hitzewelle soll nun ab Montag bis etwa Donnerstag nächster Woche kommen. Am besten schaut man sich die Entwicklung anhand von Ensembles an, hier mit den klimatischen Normen kombiniert, damit man das Ereignis betreffend Aussergewöhnlichkeit einordnen kann:
Als erstes fällt auf: Für den gesamten Prognosezeitraum von 15 Tagen bleibt die Tageshöchsttemperatur mit hoher Wahrscheinlichkeit über der Klimanorm. Eine Hitzewelle (nach Definition min. 3 Tage über 30 Grad) soll von Montag bis Donnerstag recht gesichert sein. Eine Fortsetzung ist gut möglich, aber die Streuung für eine sichere Aussage naturgemäss in diesem Zeitrahmen zu gross. Das Maximum soll am Dienstag und Mittwoch in Bern bei ungefähr 34 Grad liegen, für das tiefere Mittelland kann man etwa 1 Grad, für Basel 2 Grad draufschlagen. Selbst der höchste Member des Modells geht demzufolge nicht über 37 Grad im seriösen Zeitraum. Um zu veranschaulichen, wie absurd das mediale Höllenhitzegebrüll von 45 Grad der letzten Tage war, sei hier die Wahrscheinlichkeitskarte des ECMWF für Temperaturen über 40 Grad zum Höhepunkt der Hitzewelle gezeigt:
Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte jeder wetterinteressierte Mensch mit einem kleinen Rest Vernunft einer Modellrechnung wie dieser den Vogel gezeigt (man beachte, das ist die modellierte Temperatur um 14 Uhr MESZ und nicht der Tageshöchstwert, der in der Regel noch später eintritt und mitunter 1-2 Grad höher liegen kann):
Was theoretisch möglich ist, haben die Rekordwerte von 46 Grad Ende Juni 2019 gezeigt – das war allerdings in Südostfrankreich und nicht in unmittelbarer Nähe des kühlen Nordatlantiks. Klimakrise hin oder her: Da müsste eigentlich jedem Meteorologen ein dickes Fragezeichen aufgehen, doch im Zeitalter der TotalverAPPelung sind sich auch Vertreter unserer Branche nicht zu schade, solche Spinnereien in die Medien zu tragen „Lebensgefahr: 45 Grad in Köln!!!“. Die Verzweiflung über die wegbrechenden Verdienstmöglichkeiten im Wetterdienstleistungsgeschäft muss wirklich riesig sein…
Doch wie kommt es überhaupt, dass solch extreme Werte gerechnet werden?
Offenbar hat das amerikanische Modell GFS ein erhebliches Problem mit der Bodenfeuchte in Nordwesteuropa. Janek Zimmer hat das in einem Tweet erklärt: Tendiert in einem Modell die Bodenfeuchte gegen Null, wird die bodennahe Erwärmung der Luftmasse gleich ins Unermessliche gesteigert. Das ist in der Praxis ja auch richtig, wie sich in den Hitzesommern 2003, 2015 und 2018 auch in mehreren Regionen der Schweiz gezeigt hat. Intakte Bodenvegetation gibt Feuchtigkeit an die Luft ab (sog. Evapotranspiration), das kostet der Luftmasse Verdunstungsenergie, kurzum: Sie kühlt sich etwas ab. Ist der Boden und somit auch die Vegetation völlig ausgetrocknet, fällt der Effekt der Verdunstungsabkühlung weg und die Luft erhitzt sich bodennah wie über Saharasand oder Beton – jeder kann das ganz einfach am eigenen Körper spüren, wenn er in einer Stadt aus einem grünen Park auf eine grössere asphaltierte Fläche wechselt. Oder denkt an den Unterschied, ob ihr unter einem trockenen Sonnenschirm Schatten sucht oder unter einem Baum. Die ausgetrockneten Böden findet man aber anders als beim GFS-Modell nicht in Nordwesteuropa:
Am ehesten sind also den Extemwert-Rechnungen des GFS noch für Norditalien, Ostdeutschland, und ganz besonders Osteuropa Glauben zu schenken. Inwieweit andere Modelle von diesem Problem betroffen sind, ist schwer einzuschätzen. Jedenfalls erscheinen die Rechnungen des europäischen Modells von ECMWF deutlich plausibler. Zwar tauchen auch dort gelegentlich schwere Hitzerechnungen auf, aber mit Höchstwerten um 40-42 Grad wesentlich moderater. Und sie sind auch erklärbar: Die seit Wochen ausgetrocknete und überhitzte Iberische Halbinsel gehört mittlerweile im Sommer klimatisch zu Nordafrika. Von dort stammende Luftmassen kühlen sich also auf dem Weg nach Norden nicht mehr ab, sondern erhitzen über der Landmasse weiter. Gerät diese Heissluftblase über Frankreich dann auch noch unter starken Einfluss des Azorenhochausläufers, sinkt sie ab und erwärmt sich weiter. Das erklärt die immer wieder gerechneten Heissluftblasen über Westeuropa im Niveau von 850 hPa oder ca. 1600 m Höhe um 25 Grad herum, die dann unter leichter Abkühlung auch mal zu uns reinschwenken können:
Rechnet man die 24 Grad trockenadiabatisch runter auf die Höhe von Basel, kommt man auf 37 Grad. Realistisch ist bei den heutigen Verhältnissen am Boden ein Zuschlag von 1-2 Grad. Man sieht: Die 40 Grad werden so nördlich der Alpen in der Schweiz nicht erreicht. Dazu müsste entweder die Luftmasse in 850 hPa 26 Grad oder mehr aufweisen oder aber die Bodentrockenheit noch weiter zunehmen, womit wir beim nächsten Thema wären: die modellierte Niederschlagsarmut (siehe auch noch mal das EZ-Ensemble für Bern weiter oben).
Realistischerweise ist bei solchen Rechnungen bis Mitte nächster Woche im Flachland nichts zu erwarten, allenfalls kann sich mal irgendwo in den Bergen ein verloren gegangenes kurzes Gewitterchen entladen. Das europäische Modell (und es ist damit bei weitem nicht alleine) lässt sogar das Ende der Hitzwelle in der Nacht zu Freitag nahezu trocken über die Bühne gehen. Hier der akkumulierte Niederschlag bis nächsten Donnerstag Mitternacht:
Und hier noch das etwas höher aufgelöste amerikanische Modell zum selben Zeitpunkt:
Angesichts der persistenten Wetterlage mit West- bis Nordwestströmung und dem Hochausläufer über Westeuropa sind diese zu den Ostalpen ziehenden Fronten, von denen wir gerade noch das austrocknende Schwänzchen erwischen, durchaus realistisch. Das wäre nach weiteren zwei Wochen ohne Niederschlag und ständig wiederkehrender Bise der buchstäbliche Tropfen auf den heissen Stein am zentralen und östlichen Alpennordhang. Die Nordschweiz, der Jura und das westliche Mittelland könnten durchaus wieder leer ausgehen. Hat die Siebenschläfer-Regel auch in diesem Jahr recht und wiederholt sich danach das Spiel von vorne, dann könnten wir durchaus bei der übernächsten Hitzewelle am Boden Verhältnisse vorfinden, die den zuletzt gerechneten Extremen von GFS etwas näher kämen, sprich überadiabatische Zuschläge am Boden von 3 Grad. Dann bräuchte es nur noch ein Kippen der Strömung auf Südwest, sodass auf der Alpennordseite lokal föhnige Effekte auftreten können, und ja: In diesem Fall dürften wir die ominöse 40 ins Auge fassen. Aber das ist natürlich sehr viel Spekulation, sodass wir lieber nach dem Motto leben: Abwarten und (Eis-)Tee trinken!
Diese Seite ist bewusst werbefrei gehalten, um die Unabhängigkeit des Informationsgehaltes zu gewährleisten und nicht von den Inhalten abzulenken. Der kostenlose Zugang zu Informationen ohne boulevardeske Verzerrungen beim Thema Wetter und Klima ist uns sehr wichtig. Mit einer freiwilligen Spende unterstützen Sie die Arbeit von fotometeo.ch in einem schwierigen Marktumfeld und sichern das Fortbestehen des Blogs. Vielen Dank!
Falls Sie kein PayPal-Konto besitzen, können Sie direkt auf eines der angegebenen Konten unter den Kontaktdaten einzahlen.
Thomas S. am 12. Juli 2022 um 23:10 Uhr
Wie sehr schätze ich doch die fachlich fundierten, wohlüberlegten und perfekt formulierten Beiträge von Fabienne Muriset! Für diese Art von Informationen leiste ich sehr gerne auch einen regelmässigen finanziellen Beitrag.
Vielen Dank, Thomas S.
Microwave am 13. Juli 2022 um 00:03 Uhr
Absolut!!
Danke vielmal für die seriöse Erklärung und Darlegung.
Grüsse – Microwave
Urs Z. am 13. Juli 2022 um 09:52 Uhr
Ich bin zwar nur interessierter Laie, aber ich schätze die treffend und sachlich zusammengefassten Berichte (ohne die üblichen Massenmedienschlagzeilen) sehr.
Vielen Dank dafür, Urs Z.