Nein, wer in den letzten Monaten den Eindruck gewonnen hat, dass es ungewöhnlich trüb und nass war, hat keinen an der Waffel. Auch wenn manche – vor allem gebührenfinanzierte – Exponenten immer noch unermüdlich die Vorteile der nassen Witterung runterbeten, wie gut diese doch für die Natur, das Grundwasser und die Gletscher seien: Irgendwann ist es auch einfach zu viel. See- und Flussanrainer, Bauern und Förster insbesondere in der Ostschweiz können ein Lied davon singen, ebenso all jene, die wegen Hangrutschen in verschiedenen Teilen der Schweiz ihr Zuhause und etliches Kulturland verloren haben.
Noch im letzten Sommer geisterte wie schon öfters in den letzten Jahren das Dürregespenst durchs Land. Insbesondere von Mitte Mai bis Mitte Juli und dann noch mal im September bis Mitte Oktober war es aussergewöhnlich trocken und zeitweise auch rekordwarm, was zusätzlich viel Verdunstung und eine negative Wasserbilanz bedeutete. Allerdings gab es damals bereits sehr nasse Zwischenperioden, und seit November bewegen wir uns regional immer wieder im Rekordbereich in Sachen Nässe:
Sinnvollerweise gibt es bei klimatologischen Auswertungen Normen, zum Beispiel dass man jeweils ganze Kalendermonate oder Jahreszeiten auswertet, die drei Kalendermonate umfassen (z.B. März/April/Mai für den Frühling). Das sind denn auch die Bilanzen, die uns von MeteoSchweiz und von den Medien jeweils übermittelt werden. Wenn da in den einzelnen Monaten keine Rekorde auftauchen, ist das kaum eine Schlagzeile wert: Wie viel zum Beispiel 150 % Niederschlag im Vergleich zum langjährigen Mittel tatsächlich bedeuten, kann sich der Laie kaum vorstellen. Erst recht dann nicht, wenn sich solche Monate über einen längeren Zeitraum häufen, dann verliert man rasch den Überblick und muss sich aufs “Bauchgefühl” verlassen. Ich habe mir deshalb mal die Mühe gemacht, für ein paar Messstationen auf der Alpennordseite die homogenisierten Niederschlagsmengen der letzten 160 Jahre auszuwerten und über etwas unkonventionelle Zeiträume aufzusummieren. Das Ergebnis bestätigt die Vermutung, dass zumindest regional das vergangene Halbjahr in Sachen Niederschlag in die Rekordzone vorgestossen ist, hier am Beispiel St. Gallen:
Bei den einzelnen Monaten / Jahreszeiten / Jahren sind die Rekorde der Messreihe satt farbig markiert (so war z.B. der Juni 2023 der trockenste seit 1866), pastellfarben unterlegt sind die jeweiligen Top 10 in der Messreihe und mit der Schriftfarbe sind jene Werte hervorgehoben, die als besonders nass oder trocken gelten, ohne in die Top 10 vorzustossen, also Werte ausserhalb der Standardabweichung. April, August, November 2023, Januar, März und Mai 2024 sind also unter den nassesten 10 Monaten der Messreihe gelandet, zusätzlich war auch der Dezember 2023 aussergewöhnlich nass. Sowohl der letzte Winter wie auch der Frühling landeten ebenfalls in den Top 10 der nassesten Jahreszeiten, ebenso das Gesamtjahr 2023, ohne dass einer dieser Zeiträume einen Rekord aufstellte. Schlagzeilen machte da nur der trockenste Juni seit Messbeginn und das ist jeweils das, was sich in den Köpfen festsetzt. Eine derartige Häufung von Top-10-nassen Monaten kann aber nicht ohne Folgen bleiben, deshalb habe ich in der letzten Spalte die sieben Monate November bis Mai separat dargestellt und siehe da: Wir haben einen neuen Rekord, und zwar einen deutlichen. Der neue Wert liegt satte 13.3 % über dem alten Rekord von Nov 1998 bis Mai 1999. Auch die Station Zürich-Fluntern erreicht bei diesem Vergleich einen neuen Rekord, hier beträgt der Abstand zu 1999 allerdings “nur” 6.4 %. In Altdorf liegen die letzten sieben Monate nur auf Rang 2, der Rekord stammt aus der Periode Nov 1866 bis Mai 1867. Je weiter man nach Westen geht, umso “trockener” wird es: Bei diesem Vergleich November bis Mai liegt die aktuelle Periode in Bern auf Rang 6, in Basel auf Rang 8 der letzten 160 Jahre. Was die obige Tabelle auch noch zeigt: Einen eindeutigen Klimatrend wie bei den stetig und zuletzt stark ansteigenden Temperaturen gibt es beim Niederschlag nicht: Der August ist der einzige Monat, der über die letzten 120 Jahre stetig nasser geworden ist, beim Dezember sind es immerhin auch schon 60 Jahre, alle anderen Monate weisen mehr oder weniger Schwankungen mal in die eine, mal in die andere Richtung auf.
Nun erleidet die Ostschweiz nicht etwa ein Einzelschicksal, denn fast ganz West- und Mitteleuropa bis hinauf nach Südskandinavien und ins Baltikum haben sehr nasse letzte sieben Monate hinter sich (den weissen Fleck in Bayern bitte ignorieren, ist ein Daten-Bug), Epizentrum ist der Westen Deutschlands:
Was also sind die Ursachen für die plötzlich rekordnasse Periode der letzten Monate? Auch wenn es keine einfache Antwort gibt, ist doch eines klar: Zufall ist es nicht, denn gleich mehrere Faktoren haben zuletzt die Wahrscheinlichkeit für ausserordentlich häufige Niederschläge erhöht. Da wäre als erstes das Wiedererstarken der Westwinddrift auf dem Atlantik ins Auge zu fassen, wir haben sie bereits in der Jahresbilanz 2023 erwähnt. Schauen wir die Abweichung der Druckverteilung am Boden der letzten sieben Monate an:
Die bereits im letzten Jahr festgestellte Südverlagerung der atlantischen Tiefdruckrinne setzt sich also fort, mehr als vier Hektopascal Abweichung zur Norm über sieben Monate gemittelt ist eine gewaltige Nummer. Liegt man permanent unter Tiefdruckeinfluss, so ist eine erhöhte Niederschlagswahrscheinlichkeit keine Überraschung. Um die Rekordsummen der letzten Monate aber tatsächlich zu erreichen, braucht es auch den entsprechenden Feuchtigkeitsgehalt der zugeführten Luftmassen. Da diese meist aus West bis Südwest zu uns gelangen, handelt es sich um Meeresluft, die per se feucht ist. Nun haben wir aber seit letztem Jahr eine noch nie dagewesene Situation, dass die Weltmeere insgesamt und der Atlantik wie auch das Mittelmeer im Speziellen so warm sind wie noch nie, seit die Oberflächentemperaturen mit modernen Mitteln überwacht werden können:
Gerade der subtropische Atlantik, von wo bei den in letzter Zeit häufigen Südwestlagen, zyklonalen Westlagen und südlichen Westlagen die Luft bei uns herkommt, weist die grösste Abweichung auf. Berücksichtigt man das physikalische Gesetz, wonach die Luft pro Grad Erwärmung 7 % mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann, dann haben wir bei den etwa zwei Grad Erwärmung im Alpenraum ein Potenzial von ungefähr 15 % mehr ausfällbarem Wasser in der Atmosphäre. Schützt uns kein Hochdruckgebiet vor diesen Luftmassen, müssen sie sich zwangsläufig bei uns ausregnen, bevorzugt natürlich jeweils im Luv der angeströmten Gebirge. Die Ursachenforschung des viel zu warmen subtropischen Atlantiks ist in vollem Gange und bereitet den Klimatologen weltweit Kopfzerberechen: Die Thesen reichen vom reduzierten Schadstoffausstoss in der Schifffahrt und somit stärkerer Sonneneinstrahlung bis zum heftigen Hunga-Tonga-Vulkanausbruch im Januar 2022 in Kombination mit der starken El Niño-Phase 2022-23. Noch kaum etwas gehört hat man vom veränderten Zirkulationsmuster im atlantisch-europäischen Raum, das durch häufigere Grosswetterlagen Trog Westeuropa und Südost zyklonal vermehrt den Saharastaub statt auf den Atlantik zu uns nach Europa bläst: So meine persönliche These, die wahrscheinlich als weiteres Mosaiksteinchen mit mehr Sonnenschein auf den Atlantik zum Gesamtbild beiträgt. Wir haben hier also eine sich aufschaukelnde Situation, denn je wärmer der subtropische Atlantik wird, umso stärker wird der Temperaturgegensatz zu den gemässigten Breiten und umso häufiger ziehen Tiefs auf eher südlicher Zugbahn genau nach Mitteleuropa. Bis auf Weiteres ist also keine Besserung in Sicht, zumindest nicht nachhaltig. Dass uns im (Spät-)Sommer vorübergehend mal höheres Geopotenzial die grössten Schweinereien fernhält (und dann nach vielleicht zwei trockenen Wochen gleich wieder das Gejammer in die andere Richtung losgeht), halte ich jedoch für ebenso wahrscheinlich.
Nebst den allseits bekannten Folgen (Hochwasser, Erdrutsche, Hangbewegungen, Heu kann nicht gemäht werden, Erdbeeren verfaulen etc.) möchte ich auf einen weiteren Einfluss auf die Natur hinweisen: Bei mangelndem Sonnenschein und gleichzeitig genügend verfügbarem Wasser wachsen Pflanzen im Frühling rascher, höher und bilden auch grössere Blätter, um trotzdem genügend Photosynthese betreiben zu können. Das “wüchsige Wetter”, wie man das Sauwetter der letzten Monate auch euphemistisch beschreiben kann, sorgt dafür, dass alles ins Kraut schiesst und Bäume kopflastig werden. Die grössere Biomasse und das darin enthaltene Wasser verlagern den Schwerpunkt der Bäume nach oben. Sie bieten nicht nur mehr Angriffsfläche für Wind, was besonders bei Sturmböen als Begleiter von Gewittern mehr Sturmschäden zur Folge haben kann. Zusätzlich bieten durchnässte Böden auch weniger Halt für die Wurzeln, bei gleichzeitig nach oben verlagertem Gewicht können Bäume so auch ohne grossen Winddruck einfach umfallen. Diesem Umstand wird medial überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt, während in den letzten trockenen Sommern ständig über die leidenden Wälder berichtet wurde. Dass beide Extreme nicht gut sind, betone ich immer wieder, etwas mehr Ausgeglichenheit in der Berichterstattung diesbezüglich wäre wünschenswert.
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Mathias Kielholz am 17. Juni 2024 um 15:25 Uhr
Wunderbarer, hochinteressanter Text – vielen Dank für diese Riesenarbeit!