Wenn im Titel einer Jahreszeitprognose ein Fragezeichen steckt, dann ist klar: Man muss mit Überraschungen rechnen. In diesem Fall haben wir die mögliche Überraschung sogar beim Namen genannt: Sudden stratosphere warming (SSW). Ohne dieses wäre der vergangene Winter wie jener im Jahr zuvor mehr oder weniger mild durchmarschiert, so gab es aber immerhin ein paar kalte Phasen. Im Schnitt darf man aber trotzdem von einem Mildwinter sprechen – wobei auch das nur im Vergleich zur Vergangenheit gilt. Wahrscheinlich ist das, was soeben hinter uns liegt, das neue Normal.
Das Diagramm mit den Witterungstypen zeigt uns immerhin zehn deutlich zu kalte Tage im Zeitraum Dez. 2020 bis Feb. 2021 (wir erinnern daran: Im Winter davor gab es keinen einzigen!), dem gegenüber stehen allerdings 33 deutlich zu milde Tage. Trocken schlägt feucht mit 50:40, allerdings fiel an den feuchten Tagen überdurchschnittlich viel Niederschlag, wie wir noch sehen werden. Anders als im vorderen Winter haben wir diesmal die ganze Palette an Grosswettertypen, wobei der sehr hohe Anteil an Südwest- und Südlagen auffällt – genau so wie es prognostiziert wurde. Im langjährigen Schnitt weisen diese Grosswettertypen nur einen Anteil von 6 bzw. 7 % auf, Tendenz steigend, womit sich der Trend der letzten Jahrzehnte also fortsetzt. Ebenso wurde prognostiziert, dass dies zu Lasten der Westlagen gehen würde: Es resultierten 17 % gegenüber der langjährigen Norm von 30 %. Mit 12 % lagen die Nordwestlagen im Schnitt des Mittels 2001-2020, auch hier wurde der Trend zu einer Zunahme gegenüber dem Jahrhundertmittel von 8.5 % bestätigt. Nur etwa die Hälfte ihrer langjährigen Mittel erreichten die GWT Nord, Ost und Hoch, Tief war mit 7 statt 2 % hingegen wieder übervertreten. Diese Gesamtbilanz zeigt: Deutet sich im Herbst nicht bereits eine völlig aussergewöhnliche Zirkulationsform an, kann man mit Hilfe der Statistik bereits eine recht gute Grundlage für die Winterprognose legen, sofern man nicht den Fehler macht in einem längst nicht mehr vorhandenen Klima des letzten Jahrhunderts nach Analogiefällen zu suchen.
Der Verlauf einer für die Alpennordseite repräsentativen Station zeigt die bereits oben erwähnten Verhältnisse von sehr milden zu sehr kalten Tagen:
So sehr vor allem Vertreter der jüngeren Generation den vergangenen Winter als aussergewöhnlich schneereich und kalt empfunden haben: Im langjährigen Vergleich war selbst die Kälteperiode Mitte Februar nur ein „laues Lüftchen“, wie wir ein solches Szenario in unserer Prognose genannt haben: Von den Rekorden früherer Zeiten waren wir knapp 15 Grad entfernt. Bemerkenswert ist hier vor allem die kurze Dauer dieser Kälte, eingebettet in sehr milde Phasen davor und danach. Sie zeigt das Problem des heutigen Klimas auf: Das Kältereservoir der Arktis ist beschränkt. Brechen diese Kaltluftmassen in unsere Regionen aus, so versiegt die Quelle viel rascher als früher und die Kälte kommt in der Regel auch nicht mehr so weit voran: Jeder Kilometer nach Südwesten ist ein Kampf (in Bern wurde in dieser Phase der Tiefstwert des Winters mit -9.9 Grad gemessen, somit zum dritten Winter in Folge nicht mal zweistellig, während in der Mitte Deutschlands immerhin einige Stationen -25 Grad unterschritten). Im selben Zusammenhang – und jetzt kommen wir zum Grund, weshalb wir die Winterbilanz erst im April ziehen – steht die Tatsache, dass Mitte März und sogar noch Anfang April Temperaturen vorherrschen können, die im Januar normal wären: Die Nordpolregion kühlt sich weiter ab, so lange die Polarnacht dauert, also bis etwa zum 20. März. So lange nimmt in der Regel auch die Ausdehnung des Arktis-Eises zu, sofern nicht eine aussergewöhnliche Warmluftzufuhr bereits im Februar einen Knick verursacht:
Wahrscheinlich müssen wir damit leben lernen, dass – wenn auch nicht alljährlich, aber doch regelmässig wiederkehrend – die winterlichsten Phasen des Winterhalbjahres erst im Frühling auftreten: Eine riesige Herausforderung für die Landwirtschaft angesichts immer früher beginnender Vegetationsentwicklung durch milde Winter und trotzdem auftretender Spätfröste. Die massive Erwärmung der Arktis ist also nicht nur für die Arktis selbst eine Bedrohung, sondern hat auch ganz konkrete Auswirkungen auf die gemässigten Breiten.
Werfen wir noch einen Blick auf das Ereignis, das den Durchmarsch atlantischer Luftmassen durch den ganzen Winter gestört hat, das eingangs erwähnte SSW:
Dargestellt wird hier der mittlere Westwind rund um den Erdball auf 65° nördlicher Breite in rund 30 km Höhe. In dieser Höhe werden erste Signale für ein sogenanntes Sudden Stratosphere Warmung (SSW) detektiert, das sich im Winter sehr rasch in tiefere Luftschichten vorarbeiten und die Westwinddrift auch am Boden zusammenbrechen lassen kann. Eine Zonalwindumkehr bedeutet Ostwind, im Diagramm sinkt der Wert im Januar unter Null. Dieses Ereignis hat den Jetstream geschwächt bzw. umgelenkt, sodass vermehrt meridionale Lagen auftraten: Die Grundlage für die extremen Temperaturschwankungen bis weit in den Februar hinein war gelegt. Noch extremer waren die Auswirkungen mit einer aussergewöhnlich kalten Phase von Mitte Februar bis Ende März 2018 und dem darauf folgenden rekordwarmen April. Die Unterschiede dieser beiden Ereignisse zeigt die Schwierigkeiten einer Prognose im Falle eines auftretenden SSW auf: Kaum ein Fall gleicht dem anderen bezüglich der konkreten Auswirkungen auf Mitteleuropa.
Der Vergleich von Prognose zu Analyse des Gesamtwinters soll auch diesemal nicht fehlen (oben Prognose, unten Analyse):
Dafür, dass die Prognose das SSW und deren Folgen nicht auf dem Schirm hatten, war sie gar nicht mal so schlecht: Sehr präzise wurde der Einfluss des zu kalten Nordatlantiks auf Westeuropa gerechnet, auch die positiven Abweichungen auf dem europäischen Festland wurden zu weiten Teilen gut erfasst. Der Einfluss des SSW zeigt sich vor allem in der Kälte Russlands (Unterbruch der milden Westwindströmung) sowie dem Einfluss von Höhenkaltluft auf die Westalpen und die Pyrenäen: Die negativen Abweichungen hier gehen ausschliesslich aufs Konto des Januars, also der Zeit des SSW. Allerdings zeigt die grob aufgelöste Karte gerade in der Schweiz ein Übergewicht der Lagen oberhalb von 1000 m, wo der Winter tatsächlich durchschnittlich temperiert war. In den Niederungen der Alpennordseite resultierte hingegen ein Plus von 1.5 bis knapp 2 Grad über der Normperiode 1981-2010. Besonders eindrücklich zeigt sich dieser Unterschied auf kleinstem Raum zwischen Höhen- und Tieflagen im Südwesten Deutschlands: Auf dem Feldberg lag das Plus gegenüber der Klimanormperiode 1961-90 bei 0.6 Grad, in Baden-Baden bei 2.4 Grad (siehe Deutschlandkarte).
Vergleichen wir auch noch die Niederschläge (oben Prognose, unten Analyse):
Hier sind die Abweichungen deutlich grösser: In West- und Südeuropa war der Winter sehr niederschlagsreich und somit in höheren Lagen auch überdurchschnittlich schneereich. Allerdings blieb der Schnee häufig erst ab Höhenlagen von 400-600 m nachhaltig liegen – ein Problem, das wir bereits in früheren Winteranalysen geschildert haben. Der Eindruck eines sehr schneereichen und somit „strengen“ Winters der Bewohner mittlerer und höheren Lagen ist somit wenn auch nicht bezüglich Temperatur, so doch bezüglich Schneelage richtig. Im Norden und der Mitte Deutschlands bleibt vor allem die Grenzwetterlage der ersten Februarhälfte im Gedächtnis haften – dass der Rest des Winters ausgesprochen schneearm war, vergisst man dabei schnell. In einigen Regionen, insbesondere in den Tieflagen des Westens, konnte man die Schneedeckentage an einer Hand abzählen, während das auf 1039 m gelegene Balderschwang im Allgäu ab dem 2. Dezember eine durchgehende Schneedecke mit einem Maximum von 161 cm am 26. Januar aufweisen konnte, die auch am 16. April noch mit 82 cm Bestand hatte (siehe Deutschlandkarte).
Halten wir zusammenfassend fest: Ein Totalausfall war der Winter 2020/21 nicht, selbst im Flachland gab es zumindest eine ordentliche, wenn auch kurze Kältephase und ein paar Tage mit Schnee, trotzdem war er nach dem alten Klimamittel insgesamt deutlich zu mild. Aufgrund des Niederschlagsreichtums kann man ihn als guten Berglandwinter bezeichnen, und in den mittleren bewohnten Lagen (500-1000 m) könnte dieser Winter ungefähr das Mass für die neue Klimaperiode 2021-50 werden.
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