Im Frühling haben wir auf verschiedenen Kanälen darüber spekuliert, ob der Nordpol in diesem Jahr erstmals eisfrei werden könnte. Die Voraussetzungen waren nach einem extrem warmen Winter in der Arktis gegeben, und von April bis Juni wurde ein neuer Negativrekord der Ausdehnung des Arktiseises bezogen auf die Jahreszeit registriert. Stellte sich nur die Frage, wie weit die Wetterbedingungen im Sommer das Abschmelzen des Eises zulassen würden. Derzeit wird das saisonale Minimum der Eisfläche erreicht – Zeit, Bilanz zu ziehen.

Satelliten-Komposit der Nordpolregion vom 08.09.2016. Der Norpol befindet sich in der Bildmitte, wo die Einzelbilder sternförmig zusammenfliessen. Am unteren Bildrand ist der Norden Grönlands zu sehen. Interaktive Bildquelle: NASA Worldview
Betrachten wir die Fläche der Eisbedeckung zum jahreszeitlichen Minimum im Vergleich mit dem Rekordjahr 2012, so stellen wir fest dass derzeit ungefähr eine Viertelmillion Quadratkilometer mehr Eisfläche in der Arktis vorhanden ist als vor vier Jahren. Diese Zahl bezieht sich auf die Fläche, welche mindestens 15 % Eisanteil aufweist:

Vergleich der Ausdehnung des Arktiseises 2016 mit dem langjährigen Mittel und dem Rekordjahr 2012
Alles in bester Ordnung also? Sind die Warnungen, das Arktiseis könnte demnächst im Sommer fast gänzlich verschwinden, reiner Alarmismus? Keineswegs, denn die Ausdehnung der Fläche sagt noch überhaupt nichts über die Qualität des Eises aus. Dazu gibt es verschiedene Messmethoden. Eine davon ist die Dicke des Eises, in der folgenden Karte farbig dargestellt. Hier sehen wir, dass knapp östlich des Nordpols die Eisdicke im Schnitt weniger als einen Meter beträgt. Die Kurven rechts zeigen die Entwicklung des Gesamtvolumens des Arktiseises:

Eisdicke und Volumen 06.09.2016. Bildquelle: Danish Meteorological Institute DMI
Die Kurve von 2016 zeigt eine im Vergleich zu den Vorjahren sehr späte Abnahme des Volumens. War die Kurve im Juni noch auf Rekordniveau, hat sich die Situation im Hochsommer etwas verbessert. Eisfreundliche Witterung verhinderte das grossflächige Abschmelzen über längere Zeit. Ende August entwickelten sich jedoch in der Arktis mehrere kräftige Tiefdruckgebiete. Die damit verbundenen Stürme liessen das Eisvolumen regelrecht zusammenbrechen. Seit dem 7. September ist das Volumen nahezu konstant. Wenn nicht noch mal extrem warme Winde in den nächsten Tagen aufkommen, sollte das jahreszeitliche Minimum derzeit erreicht sein. Somit ist auch beim Volumen kein neuer Rekord zu erwarten, wenn auch der Vergleich hier knapper ausfällt als bei der Ausdehnung der Eisfläche. Also wirklich keine aussergewöhnliche Situation, ist das Arktiseis auf dem Weg zur Erholung?
Den wahren Zustand des Eises zeigen erst folgende Karten. Sie messen die Scholligkeit, ausgedrückt als Konzentration des Meereises in Prozent. Die obere Karte zeigt den Zustand zum jahreszeitlichen Flächenminimum im Rekordjahr 2012, die untere Karte jenen des Jahres 2016:

Eisdicke und -konzentration zum Zeitpunkt der geringsten Flächenausdehnung der Jahre 2012 (oben) und 2016 (unten). Bildquelle: National Institute of Polar Research (Japan)
Dieser Vergleich bestätigt die geringere Ausdehnung im Jahr 2012, zeigt aber auch deutlich die schlechte Qualität des Eises im Jahr 2016 auf. Rund um den Nordpol beträgt die Eiskonzentration derzeit weniger als 50 %, zu einem grossen Teil sogar weniger als 30 %. Zusammen mit den weiter oben gezeigten Werten bedeutet dies, dass am Nordpol derzeit zwar noch Schollen von bis zu einem Meter Dicke schwimmen, jedoch das offene Wasser mehr als die Hälfte der Fläche ausmacht. Dies zeigt auch der Kontrollblick aus dem Weltall. Wir haben den Ausschnitt rund um den Nordpol aus dem Titelbild vergrössert:
Westlich des Nordpols und in Richtung Grönland (unterer Bildrand) sind noch kompaktere Flächen zu erkennen, teilweise sind sie aber auch von Wolken verdeckt. Sehr schlecht ist der Zustand des Eises östlich des Pols und im oberen Bildquadranten, also in Richtung Europa und Sibirien. Dass 2016 kein neuer Rekord bei der Eisfläche erreicht wurde, ist somit ein reines Zufallsprodukt der vorherrschenden Witterung. Würde der Wind die Schollen zusammenschieben statt sie ruhig zu belassen, würde die Fläche rapide abnehmen. Diese Analyse zeigt auf, dass Extent über den wahren Zustand des Arktiseises nur wenig aussagt, jedoch leider bei vielen Veröffentlichungen der Medien zum Thema als alleiniges Merkmal herbeigezogen wird. Blicken wir in die nähere Zukunft, so sehen wir, dass weite Teile der Arktis auch in den nächsten Tagen deutlich zu warm bleiben:
Diese Karte zeigt die prognostizierte Abweichung der Lufttemperatur zur Klimanormperiode 1981-2010 über die nächsten sieben Tage gemittelt. Hier wird augenfällig, dass über den Regionen mit schlechter Eisqualität eine positive Abweichung errechnet wird, während die Temperaturen über dem kompakten Eis entlang der kanadischen Küste bis Nordgrönland der jahreszeitlichen Norm entsprechen oder sogar etwas darunter liegen. Die freie Wasserfläche heizt also die darüber liegende Luft momentan noch auf, das dürfte sich jedoch mit der bald einbrechenden Polarnacht demnächst erledigt haben, wenn sich bei ruhigem Wetter die Eisdecke wieder schliesst. Dann können nur noch Warmlufteinbrüche aus dem Süden die Eisbildung verzögern, wie das bereits im letzten Winter über längere Perioden der Fall war. Ohnehin wird es das Eis schwer haben, sich zu regenerieren, denn die Wassertemperaturen liegen derzeit verbreitet weit über der Norm:
Man braucht somit weder extrem spezialisiertes Wissen über die Arktis-Klimatologie noch hellseherische Fähigkeiten, um zu erahnen, dass das Thema eisfreier Nordpol bereits im nächsten Jahr wieder auf der Traktandenliste stehen wird. Denn die aktuelle Grundlage mit sehr scholligem Eis führt dazu, dass wir im Frühjahr 2017 noch weniger mehrjähriges Eis vorfinden werden, das der warmen Witterung stand halten könnte. Die in den Ozeanen gespeicherte Wärme aus den Rekordjahren 2015/16 tut ihr Übriges dazu.
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Bannmüller Michael am 11. September 2016 um 17:44 Uhr
Liebe Fabienne, Herzlichen Dank. Diese Art von auf´s Wesentliche reduzierten, lapidaren Analysen wäre unbedingt mehr Öffentlichkeit zu wünschen! Schulen! Volksbildungseinrichtungen! Bitte genau so weitermachen! Liebe Grüße Bannmüller M.