Im besten Fall versaut es den zuhause Gebliebenen den Urlaub, im schlimmsten Fall verwüstet es wie im Juli 2021 in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen ganze Täler und setzt die halbe Schweiz unter Wasser: Das Tief Mitteleuropa. Es tritt hauptsächlich im Sommerhalbjahr auf und trägt zu Recht den Ruf der unangenehmsten aller Wetterlagen. Ein Porträt.
Beschreibung
Am Boden und vor allem in der Höhe liegt ein abgeschlossener Tiefdruckkern über Mitteleuropa, der mindestens im Westen, Norden und Osten von hohem Luftdruck umschlossen ist. Diese Lage kommt häufig durch den Abschnürungsvorgang eines weit nach Süden reichenden kräftigen Trogs zustande. Die atlantische Frontalzone spaltet sich daher häufig bereits über dem Westatlantik in einen über Grönland nach Nordosten und einen schwächeren, über dem Mittelatlantik und die Iberische Halbinsel zum Mittelmeer gerichteten Zweig auf. Über Mitteleuropa selbst herrscht eine zyklonale Strömung, mit der Fronten an der Nordseite des steuernden Tiefs nach Westen ziehen.
Zuordnung
Grosswettertyp (GWT): Tief (Mitteleuropa)
Zirkulationsform (ZF): gemischt
Klimaregime: nicht eindeutig – abhängig von der Druckverteilung auf dem Atlantik alle Regimes möglich
Verwandte GWL: Hoch Nordmeer-Fennoskandien zyklonal HNFZ, Hoch Fennoskandien zyklonal HFZ
Statistik
häufigstes Auftreten im Zeitraum 2001-2023: September 5.36 %
häufigstes Auftreten im Zeitraum 1881-2008: April 4.17 %
seltenstes Auftreten im Zeitraum 2001-2023: Dezember, Februar und März 0.00 %
seltenstes Auftreten im Zeitraum 1881-2008: Dezember 1.36 %
Häufigkeit Gesamtjahr im Zeitraum 2001-2023: 2.12 %, Veränderung gegenüber 1881-2008: -0.34 Prozentpunkte
Rang Häufigkeit aller GWL: 1881-2008 Rang 15, 2001-2023 Rang 16 (Rangverschiebung: -1)
längste ununterbrochene GWL TM: 10 Tage insgesamt vier mal, zuletzt vom 22. bis 31. Mai 1984
häufigste Nachfolge-GWL 1881-1997: 1.: West zyklonal 14.0 % / 2.: Hoch Nordmeer-Finnland zyklonal HNFZ 5.7 % / 3.: Hochdruckbrücke Mitteleuropa BM 5.7 %
häufigste Nachfolge-GWL 1971-2022: 1.: Hochdruckbrücke Mitteleuropa BM 14.4 % / 2.: West zyklonal WZ und Trog Westeuropa TRW je 10.0 %
seltenste Nachfolge-GWL 1881-1997: 1.: Süd zyklonal SZ 0.3 %
folgt auf GWL 1971-2022: 1.: Trog Westeuropa TRW 21.1 % / 2.: West zyklonal WZ 8.9 % / 3.: Trog Mitteleuropa TRM, Tief Britische Inseln TB und Hoch Fennoskandien zyklonal HFZ je 6.7 %
Früher eine typische Frühlingswetterlage, die aber über das ganze Jahr verteilt gelegentlich auftrat, ist das Tief Mitteleuropa heute vor allem ein Phänomen der Monate Mai bis September. Aus dem Winterhalbjahr ist sie weitgehend verschwunden.
Für eine seltene Wetterlage sind die auffälligen Ballungen zu bestimmten Zeiten sowohl in der alten wie der neuen Klimaperiode bemerkenswert. Einer deutlichen Abnahme von Februar bis April steht eine ebenso deutliche Zunahme im August und September gegenüber, wobei sich die Wetterlage speziell im “Altweibersommer” wohl zu fühlen scheint. Früher nur gelegentlich, tritt sie seit 2007 regelmässig in der letzten Septemberwoche auf. Dieser Trend hat sich auch 2022, das in dieser Grafik noch nicht enthalten ist, bestätigt.
Seit Beginn der GWL-Statistiken 1881 bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts war das Auftreten von TM recht stabil bei ungefähr 10 Tagen pro Jahr, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging sie geringfügig zurück. Nach einem Tiefpunkt zur Jahrtausendwende scheint diese Grosswetterlage seit 2013 mächtig an Fahrt zu gewinnen. Es wird interessant zu beobachten sein, wie nachhaltig dieser Trend ist. Die starke Zunahme im Sommerhalbjahr lässt darauf schliessen, dass es sich hierbei um eine Folge der Klimaerwärmung handelt, welche die Temperaturgegensätze zwischen dem Kontinent und dem Atlantik zunehmen lässt.
Witterung
Generell trüb und nass mit Neigung zu sehr hohen Niederschlagsmengen, mit Ausnahme des Winters zu kühl für die Jahreszeit.
Frühling und Herbst: kälter als normal; Niederschlag übernormal
Sommer: kälter als normal, Tagesminimum normal; Niederschlag übernormal
Winter: nur westliches Europa kälter als normal; Niederschlag übernormal
Typische Beispiele
Frühling (Klick ins Bild öffnet grössere Ansicht):
Ein umfangreicher Tiefdruckkomplex beherrscht ganz Europa, bestehend aus dem steuernden Höhentief und mehreren umkreisenden Bodentiefs. Die abgeschnürte Luftmasse ist derart kalt und wird durch Niederschlagsabkühlung weiter abgekühlt, dass es bis in tiefe Lagen schneit. Diese völlig blockierte Lage hält mit geringfügigen Verlagerungen des Tiefs fast die ganze zweite Maihälfte bis Anfang Juni an und sorgt für den kältesten und trübsten Mai seit 1991. Diese Lage leitete in weiten Teilen Mitteleuropas eine verheerende Hochwasserkatastrophe ein.
Sommer:
Im Sommer sind die Druckzentren weitaus weniger stark ausgeprägt, die blockierende Lage ist aber nicht weniger verheerend, zumal die wärmeren Luftmassen auch viel mehr Feuchtigkeit aufnehmen und wieder abgeben können. In diesem speziellen Fall trifft heisse Luft aus dem östlichen Mittelmeerraum auf ihrem Weg nach Norden an der Ostflanke des Tiefs auf eine ausserordentlich warme Ostsee, wo sie weitere Feuchtigkeit aufnimmt. Der anschliessend von der Ostsee auf die westlichen Mittelgebirge gerichtete Strom aussergewöhnlich warm-feuchter Luft wirkt sich mit extrem intensivem Dauerregen besonders verheerend auf Teile von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen aus, aber auch in der Schweiz wurden Rekordhochwasserstände erreicht. Mit der deutlichen Zunahme dieser Wetterlage im Sommer bei gleichzeitig sich erwärmenden Meeren rund um Europa muss in Zukunft vermehrt mit solchen Extremereignissen gerechnet werden.
Markante Wettererscheinungen, Unwetterpotenzial
Wie die obigen Beispiele zeigen, kann die GWL Tief Mitteleuropa besonders im Sommerhalbjahr verbreitete Hochwasserkatastrophen bringen. Meist ist dazu allerdings auch eine nasse Vorgeschichte nötig wie im Fall 2013 ein kalter und in den Alpen schneereicher Frühling, was zum Dauerregen zusätzliches Schmelzwasser in die Flüsse einträgt. Die Schwerpunkte können je nach Positionierung des Tiefs immer etwas anders gelagert sein, meist sind jedoch die nördlichen Alpenabflüsse sowie die Mittelgebirge betroffen, gelegentlich auch die Alpensüdseite. Beim seltenen Auftreten dieser Wetterlage im Winter ist mit intensiven Schneefällen und folglich grosser Lawinengefahr zu rechnen, an der Nord- und Ostsee können auch Sturmfluten auftreten.
Auswirkungen auf den Vogelzug
In der Regel bringen die schlechten Sicht- und Windverhältnisse bei Tief Mitteleuropa den Vogelzug weiträumig zum Erliegen, TM ist daher eine typische Zugstaulage. Trotzdem können bei lang anhaltenden Schlechtwetterperioden an einzelnen “schöneren” Tagen innerhalb einer GWL TM besonders im Flachland lokale Spitzenzugtage auftreten, da es im Kern des Tiefs meist eine niederschlagsarme und windschwache Zone gibt.
Grundlagen:
Katalog der Großwetterlagen Europas (1881-2009) nach Paul Hess und Helmut Brezowsky
Statistik der Grosswetterlagen aufgeschlüsselt nach Monat und Gesamtjahr im Zeitraum 2001-2020
Wulf Gatter: Vogelzug und Vogelbestände in Mitteleuropa, erschienen im Aula-Verlag, 2000
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Microwave am 8. August 2022 um 20:11 Uhr
Hoi Federwolke, weil ich über “TRM” ==> “Porträtübersicht” per Zufall die Lage “TM” gefunden habe, eine Frage an Rande: Was ist der Unterschied zwischen TRM und TM? Bei TM erscheint aufgrund deinem Beispiel alles ein bisschen engräumiger und intensiver als beim TRM Beispiel. Ist das der Unterschied (wie merkt man das eigentlich am Wetter im MiLa, Regen bringen ja beide?) oder ist das nur per Zufall wegen deiner Beispielwahl? Ich habe die Karten in verschiedene Tabs getan, aber ich habe auf die Schnelle nur das als Unterschied gesehen. Ach ja, ich rede nur vom Sommer. Beste Grüsse – Microwave
Fabienne Muriset am 8. August 2022 um 22:30 Uhr
Hoi Microwave
Der Unterschied zwischen TRM und TM ist in der Juli-Analyse 2014 anschaulich dargestellt und erklärt. Auf das Wetter bei uns wirken sich beide Lagen in etwa gleich aus. Für uns wichtiger ob TRM oder TM ist die genaue Position der Trogachse bzw. des Tiefdruckkerns, und ob sich das System verlagert oder stationär bleibt.
Wenn die Reihe der GWL-Porträts abgeschlossen ist, werde ich wahrscheinlich noch ein paar Artikel schreiben, in denen die Unterschiede sehr nah verwandter GWL etwas besser hervorgehoben werden können als in den Einzelporträts. Vor allem die Paare TB/TRW und TM/TRM bieten sich an, aber auch etwa NWA/HB, NA/HNA und vielleicht noch andere.
Grüsslis
Fabienne
Microwave am 9. August 2022 um 18:32 Uhr
Danke für den Artikelhinweis, es ist mir jetzt klar geworden =) Grüsse – Microwave