Der zunehmende Temperaturgradient zwischen sich erwärmendem Nordmeer und der sich immer noch auskühlenden skandinavischen Landmasse im Winter begünstigt Tiefdruckbildung in dieser Region – die Folge ist eine markante Zunahme der Grosswetterlage “Nordwest, in Mitteleuropa überwiegend zyklonal” in der kalten Jahreszeit. Ein Porträt.
Beschreibung
Zwischen einem nordostwärts bis zur westlichen Biskaya vorgeschobenen, aber nicht blockierenden Subtropenhoch, und einem ausgedehnten Tiefdrucksystem über Schottland, dem Nordmeer und Skandinavien verläuft eine kräftige Frontalzone über die Britischen Inseln, die Nordsee und das östliche Mitteleuropa nach Südosteuropa bis zu einem osteuropäischen Trog. In ihr wandern Randtiefs vom mittleren Nordatlantik über die Britischen Inseln, das östliche Mitteleuropa und das nördliche Südosteuropa nach Osten, die später nach Nordosten abbiegen. Über Norditalien kommt es dabei im Lee der Alpen oft zur Ausbildung von ostwärts ziehenden Randtiefs.
Zuordnung
Grosswettertyp (GWT): Nordwest
Zirkulationsform (ZF): gemischt
Klimaregime: meist ATR (atlantischer Rücken), selten NAO+ (positive nordatlantische Oszillation)
Verwandte GWL: in zyklonaler Richtung: West zyklonal WZ, Trog Mitteleuropa TRM; in antizyklonaler Richtung: Nordwest antizyklonal NWA
Statistik
häufigstes Auftreten im Zeitraum 2001-2023: Januar 11.36 %
häufigstes Auftreten im Zeitraum 1881-2008: Juli 6.85 %
seltenstes Auftreten im Zeitraum 2001-2023: August 1.68 %
seltenstes Auftreten im Zeitraum 1881-2008: Mai 2.90 %, Oktober 2.95 %
Häufigkeit Gesamtjahr im Zeitraum 2001-2023: 5.71 %, Veränderung gegenüber 1881-2008: +0.98 Prozentpunkte
Rang Häufigkeit aller GWL: 1881-2008 Rang 5, 2001-2023 Rang 6 (Rangverschiebung: -1)
längste ununterbrochene GWL NWZ: 19 Tage vom 12. bis 30. März 1966
häufigste Nachfolge-GWL 1881-1997: 1.: West zyklonal WZ 17.0 % / 2.: Hoch Mitteleuropa HM 8.9 % / 3.: West antizyklonal WA 7.1 %
häufigste Nachfolge-GWL 1971-2022: 1.: Hochdruckbrücke Mitteleuropa BM 15.0 % / 2.: West zyklonal WZ 11.9 % / 3.: West antizyklonal WA 8.8 %
seltenste Nachfolge-GWL 1881-1997: Südost zyklonal SEZ 0.0 %
folgt auf GWL 1971-2022: 1.: Hochdruckbrücke Mitteleuropa BM 20.2 % / 2.: West zyklonal WZ 15.5 % / 3.: Hoch Britische Inseln HB 8.3 %
Nordwest zyklonal hat seit der Jahrtausendwende in den Monaten November bis Februar markant zugenommen. Zu erklären ist dies mit einer skandinavischen Landmasse, die zu Beginn des Winters nach den ersten Schneefällen immer noch sehr stark auskühlt, während das Nordmeer aufgrund der geringeren Ausdehnung des Arktiseises wärmer ist als früher. Der Temperaturgradient begünstigt Tiefdruckbildung im Bereich Nordmeer-Skandinavien, während sich über dem warmen Nordatlantik Hochdruckgebiete halten können. Die sich dazwischen etablierende Nordwestströmung zielt oft wochenlang genau auf Mitteleuropa. Im Hochsommer hingegen nimmt NWZ ab, am deutlichsten im August, offenbar zugunsten der verwandten GWL Trog Mitteleuropa.
Der starke Anstieg im März ist hauptsächlich auf die 90er-Jahre zurückzuführen – zwischen 1992 und 2000 gab es nur zwei Jahre ohne NWZ Mitte März. Die zweite auffällige Zunahme liegt zwischen dem 15. und 20. Februar. Aus dem Hochsommer ist die Lage hingegen fast völlig verschwunden, ebenso Ende April (EAW = End April Warming). Eine weitere interessante Zunahme ist jene exakt zu den Weihnachtstagen: Diese Lage führt zu milde Luftmassen für Schnee in den tiefsten Lagen herbei und trägt hier somit ebenfalls zum Weihnachtsauwetter bei, kann aber grössere Schneemengen oberhalb von 500 bis 800 m bringen – oder tendenziell eher noch weiter oben, wie der Fall 21.-23.12.2023 zeigt.
Nordwest zyklonal ist eine der wenigen GWL, die in jedem Jahr auftreten, wenn auch mit beträchtlichen Schwankungen der Häufigkeit. Der langfristige Trend ist derzeit leicht steigend, allerdings wie man oben sieht nicht gleichmässig auf die Jahreszeiten verteilt. Das aktuelle Niveau von rund 20 Tagen pro Jahr wurde bereits im Zeitraum 1920-1950 erreicht, davor und zwischen 1950 und 2000 lag es zwischen 10 und 15 Tagen.
Witterung
Generell feucht-kühl mit staubedingten Niederschlagsschwerpunkten an den Nordseiten der Gebirge und föhnig-trocken an deren Südseiten. Im Winter jedoch aufgrund der steigenden Wassertemperatur im Nordatlantik zunehmend mild. War früher Nordwest zyklonal für Höhenlagen von 300 bis 500 Meter noch ein Schneegarant, liegt die durchschnittliche Schneefallgrenze heute ungefähr 200 m höher. Der höhere Feuchtigkeitsgehalt in wärmerer Luft sorgt allerdings oft für extreme Schneefälle in höheren Lagen.
Frühling: kälter als normal. Niederschlag übernormal, im Westen Tendenz zu unternormal.
Sommer: kälter als normal. Niederschlag im Osten übernormal, im Westen unternormal.
Herbst: im Frühherbst kälter als normal, im Spätherbst normal. Niederschlag übernormal.
Winter: wärmer als normal. Niederschlag übernormal.
Typische Beispiele
Winter (Klick ins Bild öffnet grössere Ansicht):
Der starke, aber mäandernde Jetstream zielt von der Nordsee direkt auf die Ostalpen. Eine scharfe Luftmassengrenze erstreckt sich von Schottland über die Zentralalpen hinweg bis nach Griechenland. Nordöstlich davon fliesst arktische Kaltluft aus Skandinavien ins östliche Mitteleuropa, während im Westen feuchte Meeresluft vorherrscht, die nur einen kurzen Schlenker nach Norden über Irland hinter sich hat und daher wenig abgekühlt wurde. Dieser “atmospheric river” sorgt für intensive Niederschläge, die innerhalb von 24 Stunden am Flughafen Zürich 33 cm Schnee bringen, in den Alpen teils neue Rekorde innerhalb von 48 Stunden, z.B. 106 cm in Arosa. Im Schweizer Mittelland auf rund 400 m ist die Schneefallgrenze messerscharf abgeschnitten und bewegt sich über viele Stunden hinweg kaum vom Fleck: Zwischen 15 cm Neuschnee in kurzer Zeit und Dauerregen liegen nur ein paar wenige Kilometer. An den Temperatur- und Windwerten der Wetterstation Grenchen erkennt man die hin- und herpendelnde Luftmassengrenze mit 3-4 Grad Unterschied.
Sommer:
Eine typische Wetterlage im Juli: Die Druckunterschiede am Boden sind gering, der mäandernde Jetstream über der Frontalzone mässig stark. Über der Schweiz erreicht der Jetstream ein Windmaximum, das auch in mittleren Höhen noch zu erkennen ist. In Mitteleuropa herrschen mässig warme Luftmassen bei noch fast maximaler Sonneneinstrahlung, ein kleines Vortex-Maximum über Süddeutschland fördert die Entwicklung von Gewittern. Diese ziehen mit hoher Geschwindigkeit vom Schwarzwald über die Nordostschweiz zu den Alpen, in Wil im Kanton St. Gallen entsteht ein gut dokumentierter Tornado. Der Hagel ist aufgrund der geringen vertikalen Mächtigkeit der Superzelle relativ klein, in einer wesentlich energiereicheren Luftmasse z.B. einer Südwestlage wären die Schäden wohl beträchtlicher gewesen.
Markante Wettererscheinungen, Unwetterpotenzial
Die Wettererscheinungen durch Nordwest zyklonal sind vielfältig je nach Jahreszeit. Im Winter sind ergiebige Schneefälle in den Nordstaulagen der Gebirge, insbesondere am Alpennordhang, die markanteste Unwettergefahr durch NWZ. Durch zusätzliche Windverfrachtungen des Neuschnees in den Hochalpen steigt jeweils auch die Lawinengefahr. Für den letzten grossen Lawinenwinter 1999 war nebst Trog Mitteleuropa und Nord zyklonal zu einem wesentlichen Teil NWZ vom 16.-25.02. verantwortlich. Für Schneechaos in den Niederungen reicht es zwar wegen der Erwärmung heute nur noch selten bei NWZ, kommt aber bei optimalen Bedingungen noch gelegentlich vor (siehe Beispiel vom 14.01.2021 oben). Wenn in Hamburg wieder mal zu nah an der Elbe geparkte Fahrzeuge absaufen (und dies ist noch die harmlosere Variante), dann ist meistens NWZ für die Sturmflut verantwortlich. Der permanent starke Wind treibt das Wasser in die trichterförmige Deutsche Bucht, im dümmsten Fall kommt noch eine Hochwasser führende Elbe durch die Stauniederschläge im Erzgebirge hinzu. Bekannteste Beispiele in jüngerer Zeit waren Orkan Xaver Dez. 2013 und Sturm Tilo Nov. 2007 (Titelkarte), das verheerendste jener vom Februar 1962. Die stärksten Nordföhn-Stürme auf der Alpensüdseite gehen auf NWZ zurück (z.B. “Paula” am 27.01.2008), sie können trotz ihrer nördlichen Herkunft insbesondere im Winter für Rekordtemperaturen sorgen.
Auswirkungen auf den Vogelzug
Nordwest zyklonal ist sowohl im Herbst wie im Frühling von den häufigeren Wetterlagen die am stärksten gemiedene für den Vogelzug auf der Alpennordseite und in Süddeutschland. Langstreckenzieher nutzen sie kaum, Kurzstreckenzieher nur spärlich. Grund sind die häufigen Niederschläge sowie der starke hinderliche Seitenwind. Anders sieht es vermutlich beim Herbstzug am Alpenostrand aus, wo der Rückenwind für Südostzieher in trockenen Phasen günstig ist, z.B. hinter einer Kaltfront.
Grundlagen:
Katalog der Großwetterlagen Europas (1881-2009) nach Paul Hess und Helmut Brezowsky
Statistik der Grosswetterlagen aufgeschlüsselt nach Monat und Gesamtjahr im Zeitraum 2001-2020
Wulf Gatter: Vogelzug und Vogelbestände in Mitteleuropa, erschienen im Aula-Verlag, 2000
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