Es ist eine Binsenwahrheit: Schneeschmelze wird am effektivsten durch Regen und Wind verursacht. Hohe Temperaturen alleine sind bei Windstille hingegen nahezu wirkungslos, wenn die Luft trocken ist. Der Schnee geht dann sehr langsam – für uns kaum wahrnehmbar – direkt von der festen in die gasförmige Phase über: er sublimiert. Beim markanten Wärmeeinbruch am 25. Januar 2016 war weder das eine noch das andere ursächlich, sondern – sehr unüblich für die Jahreszeit und den tiefen Sonnenstand – hauptsächlich die Sonneneinstrahlung. Dies lässt sich an der Landschaft sehr schön ablesen, denn je nach Exposition und Besonnung liegen Winter und Frühling oft nur wenige Meter nebeneinander.
In Wintern mit “normalem”, sprich durchschnittlichem Temperaturverlauf hält sich eine Schneedecke auch in tieferen Lagen oft wochenlang, sofern sie nicht durch Regen und Wind fortgewaschen wird. Hochdrucklagen sind dann oft ein Garant dafür, dass der Schnee längere Zeit liegen bleibt, auch wenn häufig die Sonne scheint und die Temperaturen tagsüber in den positiven Bereich steigen. Das System erhält sich beinahe von selbst: Über einer geschlossenen Schneedecke kühlt die Luft in der Nacht stark aus, es bildet sich ein bodennaher Kaltluftfilm, der bei Windstille auch tagsüber bestehen kann, obwohl die Sonne scheint. Die von der Sonne gelieferte Energie wird auf der weissen Schneefläche zum grössten Teil wieder ins All zurückgeworfen (Albedo). So lange die Luft trocken bleibt, kann dabei selbst bei positiven Temperaturen der Schnee nicht schmelzen, sondern er sublimiert ganz langsam. Das Wasser geht direkt vom festen in den gasförmigen Zustand über. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass die Luft nicht direkt von der Sonne erwärmt wird, sondern indirekt über den Boden. Erst ein warmer Boden kann die darüber liegende Luft aufheizen. Ist der Boden schneebedeckt, wird diese indirekte Erwärmung nahezu vollständig unterbunden.
Im Winter 2015/16 ist jedoch alles ganz anders: Ein kurzer, aber knackiger Kaltlufteinbruch bringt eine geschlossene Schneedecke bis knapp 400 Meter und lässt die Temperatur im Schweizer Mittelland am 18. Januar erstmals in diesem Winter in den zweistelligen Minusbereich fallen. Genau eine Woche hält sich der Winter, dann ist wieder Schluss. Doch nicht der übliche Regen oder warmer Wind rafft den Schnee hinweg. Trotz Hochdruckeinfluss kann sich der Schnee bis in die Mittelgebirgsregionen hinauf nicht halten, er schmilzt rasant dahin wie sonst in der Märzensonne. Was ist passiert?
Der Grund dafür ist in der Vorgeschichte zu suchen: Der rekordwarme und extrem sonnenscheinreiche Dezember hielt die Böden warm – allerdings nur an jenen Stellen, die auch regelmässig von der Sonne beschienen werden. Kahlfrost gab es nur an schattigen Stellen. Das sind all jene Flächen, die mindestens eine Hangneigung von 20° nach Norden aufweisen, dort kann die Sonne im Winter am 47. Breitengrad nicht hinscheinen (auf 52° Nord sind bereits Flächen mit einer Hangneigung von 15° betroffen). Auskühlen konnten ebenso all jene Stellen, die durch hohe Berge, durch Wald und Gebäude dauerhaft beschattet werden. Alle übrigen Flächen, die zumindest stundenweise der Sonne ausgesetzt sind, blieben warm. Doch auch hier gibt es Unterschiede: Bei einem maximalen Sonnenstand von 20° über dem Horizont machen geringe Unterschiede in der Exposition sehr viel aus. Je flacher die Sonne auf den Boden trifft, auf eine umso grössere Fläche verteilt sich die Energie der Sonnenstrahlen. Aus diesem Grund werden Solarpanels auch auf Flachdächern nach Süden geneigt, um eine maximale Wirkung zu erzielen. So bleiben nach Süden geneigte Böden auch im Winter warm. Fällt Schnee darauf, wird er von unten her angetaut. Ist die Neigung stark genug, gleitet der nasse Schnee ab, der Boden erwärmt sich weiter und heizt die Luft in der Umgebung auf: Die positive Verstärkung von Schneeschmelze, Boden- und Lufterwärmung ist in Gang gesetzt. Es bildet sich ein warmes Mikroklima, in dem sich die Vegetation sehr früh entwickelt.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf können wir nun in der Landschaft ablesen, was genau in den letzten Tagen geschehen ist: Mancherorts fiel Schnee auf warme Böden und konnte kaum richtig ansetzen. Andernorts blieb der Schnee zwar liegen, wurde aber von unten her weggetaut. Oft ziehen sich markante Linien durch die Landschaft, wo die feinen Unterschiede der Hangneigung in Erscheinung treten. Das Beispiel zeigt die Ansicht vom Dentenberg östlich von Bern mit Blickrichtung Nordost zu den westlichen Hügeln des Emmentals. Das Dorf in der Bildmitte ist Utzigen, Teil der Gemeinde Vechigen:
1: Leicht nach Norden geneigte Fläche auf 720 m Höhe (kalter Boden): Von den ungefähr 10 cm Schnee der Vorwoche ist der grösste Teil noch vorhanden. Die sehr flach auftreffenden Sonnenstrahlen können der Schneedecke nur wenig anhaben. Auf derselben Höhe mit leicht nach Süden geneigter Lage ist der Schnee vollständig weggetaut (Titelbild).
2: Westexponierter Hang zwischen 800 und 850 m: mässig warmer Boden, aber Luvseite während des Schneefalls (hohe Niederschlagsrate)
3: Südexponierter Hang zwischen 850 und 930 m: sehr warmer Boden. Geringe Unterschiede in der Hangexposition lassen Schneereste zu.
4: Flacher Talboden auf 780 m. Nächtlicher Kaltluftsee in Muldenlage, gefrorene Böden trotz täglicher Besonnung.
5: Südwestexponierter Hang zwischen 850 und 920 m: Schattenwurf durch den bewaldeten Hügel rechts, kalte Böden und hohe Niederschlagsrate
Die im Schatten von Wäldern liegenden Flächen sind tief gefroren und mit Schnee bedeckt, während an der Sonne alles weggetaut ist und die Schneeglöckchen spriessen. Temperaturunterschiede von mehr als zehn Grad auf wenige Meter Distanz sind bei windschwachen Verhältnissen keine Seltenheit. Dies gilt es insbesondere im Strassenverkehr auf Nebenstrassen mit eingeschränktem Winterdienst zu beachten. Oft lauern an schattigen Stellen (nicht selten hinter schlecht einsehbaren Biegungen und Kuppen) auch mitten am sonnigen Nachmittag glatte Überraschungen.
Was in der kleinräumigen Landschaftsgliederung sichtbar ist, kann man auch auf grössere Massstäbe übertragen. Satellitenbild der Schweiz am 25.01.2016, 11:52 MEZ (Bildquelle: www.eurac.edu):
Lagen unterhalb von 450 m sind meist schneefrei, doch auch hier sind Unterschiede bei der Hangneigung zu sehen. Südhänge sind oft bis 800 m ausgeapert, besonders in den westlichen Regionen, während an den Nordhanglagen der Schnee noch bis zu den Talböden reicht. Seen erwärmen die Luft in der unmittelbaren Umgebung, sehr gut zu sehen am schneefreien Thunersee, während auf derselben Höhe im Aaretal Schnee liegt. Auch Städte erwärmen die Umgebung, der graue Fleck der Stadt Bern hebt sich z.B. sehr gut vom verschneiten Umland ab. Über dem Bodensee sowie über Bieler- und Neuenburgersee liegt Nebel.
Angesichts der aktuellen Zustände sieht es auch für den Rest des Winters schlecht aus in Sachen Schnee in den tiefen Lagen. Damit sich eine Schneedecke länger halten kann, müssten erst mal die Böden durch eine längere Dauerfrostperiode ausgekühlt werden. Eine solche Phase ist jedoch in absehbarer Zeit nicht zu erwarten und wird danach mit steigendem Sonnenstand zunehmend unwahrscheinlicher.
C. Käsermann am 26. Januar 2016 um 14:59 Uhr
Merci für die anschaulichen Erklärungen und Beispiele. Wenn man mit offenen Augen durch die Landschaft geht sind auch sogenannte “langweilige” Wetterlagen (s. einige Klagen im Sturmforum) abwechslungsreich.
Dani am 26. Januar 2016 um 16:06 Uhr
Merci Fabienne! Was man noch ergänzen könnte: Der Windeinfluss war auch in tieferen Lagen zeitweise rech markant. Er verbläst den frischen Schnee von Geländerücken in Mulden oder in andere Leegebiete. An Geländekanten konnte man selbst auf 800m Wechten finden…
Rudi Brolli am 27. Januar 2016 um 18:13 Uhr
Sehr interessant. Eigentlich eh klar, wenn man mit offenen Augen durch die Landschaft geht. Aber jetzt erst bewusst.