Die Langfristmodelle liessen im November keinen Zweifel aufkommen: Auch dieser Winter würde temperaturmässig in Europa wieder über der (neuen) Klimanorm bilanzieren – die Frage war nur: Wie viel und in welchen Regionen besonders deutlich. Zudem war für West- und Mitteleuropa Trockenheit angesagt. Sämtliche feuchten und vor allem kalten Träume der klickgeilen „Experten“ waren im Vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Winter 2022/23 war in den West- und Zentralalpen so schneearm wie noch selten, von den tiefsten Lagen im nördlichen Mitteleuropa ganz zu schweigen – wobei das dort inzwischen längst zur Norm geworden ist. Stattdessen gab es (schon wieder) Wärmerekorde um den Jahreswechsel. Und wie um die Winterfreunde zu verhöhnen, kam der einzige Schnee der Saison mancherorts (vor allem im Norden), als der meteorologische Winter bereits vorbei war, nämlich im März – mit entsprechend kurzer Lebensdauer.
„Überwiegend Hochdruck“ lautete die Überschrift unserer Winterprognose vom 15. November. Nun: So überwiegend war er dann doch nicht, waren doch die zyklonalen Grosswetterlagen mit 48 Tagen gegenüber den antizyklonalen mit 40 Tagen im Vorteil. Die feuchten und trockenen Tage halten sich ziemlich genau die Waage. Dabei war vor allem der Februar hochdruckbestimmt und der Dezember tiefdruckbestimmt, im Januar war es ausgeglichen. Das Problem dieses Winters war, dass zwar mehr als die Hälfte von Wetterlagen aus dem Sektor West geprägt war, was für Zufuhr milder und feuchter Luftmassen sorgt, die Niederschlagsmengen aber trotzdem selten ergiebig fielen. Die stärksten Niederschläge zogen vor allem südlich der Alpen durch, wie wir noch sehen werden. Immerhin 28 % können Nord- und Ostlagen auf sich vereinen – früher Garant für strenge Winterepisoden, heute auch vergleichsweise nur noch ein laues Lüftchen. Denn für nachhaltige Kälte bei uns müsste Nordosteuropa eine verbreitet geschlossene Schneedecke aufweisen sowie die Ostsee gefroren sein – tempi passati. So verwundert es nicht, dass dieser Winter gerade mal zehn verstreute Tage zusammengebröselt hat, die zum Teil nur knapp dem Kriterium „kalt“ entsprachen (Standardabweichung Sigma 1, gestrichelte Linie), im Vergleich zu 37 warmen:
Notiz am Rande: Das 30-Tage-Mittel vom 19. Dezember bis 17. Januar entspricht jenem von Anfang April nach Klimanorm 1991-2020. Der Verlauf macht auch deutlich, dass die Prognose „winterlichste Phase vor einem markanten Weihnachtstauwetter und danach nichts mehr wirklich aussergewöhnliches“, genau richtig war. Die Kritiker meiner Arbeitsweise sagen natürlich immer noch, das sei reiner Zufall, denn niemand könne… Das sind Statistiker, Mathematiker und Modellierer, die begriffen haben, dass Modelle ein chaotisches System wie das Wetter eben nie gänzlich in den Griff bekommen werden. So weit so richtig. Was sie aber nicht begreifen: Meteorologie ist eben mehr als Mathematik. Wer Synoptik betreiben will, muss etwas vernetzter denken können. Und das haben Menschen, deren Hirnfunktionen noch nicht vollständig von künstlicher Intelligenz gekapert wurden, den anderen voraus. Eine aussterbende Spezies, leider nicht nur in dieser Branche…
Widmen wir uns der gesamteuropäischen Bilanz, so müssen wir einmal mehr zur Kenntnis nehmen, dass jenes Modell mit der höchsten Temperaturabweichung (CFS) am besten lag (oben Prognose, unten Analyse):
Allerdings hatte keines der acht Langfristmodelle die Abweichung von >3 Grad in Ost-Mitteleuropa auf dem Schirm, ebensowenig wie die negative Abweichung rund um die Azoren und östlich des Kaspischen Meeres. Insgesamt veranschaulicht diese Verteilung der Temperaturabweichung sehr gut, warum uns auch die Nord- und Ostlagen keine strenge Winterphase zukommen lassen konnten – ein Umstand, auf den in der Prognose ausdrücklich hingewiesen wurde.
Bei der Abweichung der Niederschläge hatte hingegen das europäische Modell den besten Riecher (oben Prognose, unten Analyse):
Auffällig ist hier der nasse Gürtel, der sich von den Kanarischen Inseln über Süd- nach Osteuropa erstreckt und die zwei trockenen Zonen über dem Nordatlantik und Südosteuropa teilt. Auch die Alpennordseite und somit weite Teile Mitteleuropas waren trockener als normal. Hier wäre eine Karte mit Prozent-Abweichungen informativer, die leider nicht zur Verfügung steht. Mit der groben Auflösung dieser Karte kommt auch schlecht zur Geltung, dass im Gebiet Tessin-Graubünden-Tirol rund die Hälfte des saisonalen Niederschlags fehlt, was die Schneearmut in den Hochalpen erklärt. Jene in den Niederungen ist wenig überraschend eher ein Wärmeproblem und Folge eines Anstiegs der durchschnittlichen Schneefallgrenze je nach Region um 200-400 Meter in den letzten Jahrzehnten.
Die Abweichung der Druckverhältnisse zeigt die Komplexität dieses Winters und auch, warum alle Grosswettertypen bis auf Süd und Tief Mitteleuropa so gut vertreten waren:
Hier die Abweichung des Geopotenzials in rund 5000 m Höhe gegenüber der langjährigen Norm. West-Mitteleuropa war über die ganze Jahreszeit gemittelt inmitten eines Viererdruckfeldes gefangen und bekam Einflüsse aus allen Richtungen, wobei der Hochdruck dominiert. Somit ist die Prognose „überwiegend Hochdruck“ doch noch gerettet. Es nützen eben die schönsten zyklonalen Grosswetterlagen im Bodendruckfeld nichts, wenn die atlantischen Fronten in hohes Geopotenzial hineinlaufen und vertrocknen.
Diese Seite ist bewusst werbefrei gehalten, um die Unabhängigkeit des Informationsgehaltes zu gewährleisten und nicht von den Inhalten abzulenken. Der kostenlose Zugang zu Informationen ohne boulevardeske Verzerrungen beim Thema Wetter und Klima ist uns sehr wichtig. Mit einer freiwilligen Spende unterstützen Sie die Arbeit von fotometeo.ch in einem schwierigen Marktumfeld und sichern das Fortbestehen des Blogs. Vielen Dank!
Noch besser, weil für die Empfängerin spesenfrei, sind direkte Einzahlungen auf eines der angegebenen Konten unter den Kontaktdaten.
Spendenbarometer (fotometeo und orniwetter zusammen, Erklärung siehe hier):