Am Tag nach dem katastrophalen Bergsturz im Lötschental / Wallis, bei dem das Dorf Blatten weitgehend zerstört wurde, schaut man immer noch ungläubig auf die Bilder. Meine Gedanken sind bei den Leuten, die ihr Zuhause verloren haben. Nur dank Fortschritten in Wissenschaft und Forschung sind sie heute noch am leben. Hier sollen allfällige Einflüsse der Witterung in den letzten Wochen und Monaten sowie am Tag des Ereignisses auf die Entwicklung an Berg und Gletscher aufgezeigt werden.

Blick vom Lötschentaler Höhenweg auf Bietschhorn, Kleines Nesthorn und Birchgletscher (15. Oktober 2005 / fm)
Eigentlich war es eine Katastrophe mit Ansage, auch wenn sich die Situation erst seit zwei Wochen zugespitzt hat. Die Evakuierung des Dorfes Blatten am 19. Mai kam für viele überraschend, schon länger bekannt war allerdings, dass das Kleine Nesthorn bröckelig war und entsprechend bei Bergsteigern berüchtigt. Der Ausschnitt in Originalgrösse des Titelbildes zeigt Geröllspuren vom Kleinen Nesthorn hinab auf den Birchgletscher bereits vor 20 Jahren:
Entsprechend war das Kleine Nesthorn bereits seit etwa 30 Jahren unter intensiver Beobachtung der Geologen mit modernsten Mitteln. Dennoch hatte das Dorf Blatten keine Chance. Die Konstellation mit dem Birchgletscher, der als einziger Gletscher der Schweiz in den letzten Jahren trotz Klimaerwärmung einen Längenzuwachs verzeichnen konnte – sehr wahrscheinlich verursacht durch eben die stetige Belastung von auf den oberen Teil des Gletschers stürzenden Verwitterungsmaterials – war fatal. Nach vielen kleineren und einem grösseren Abbruch des Kleinen Nesthorns am 23. Mai lagen schätzungsweise 9 Mio. Tonnen Gestein auf dem Birchgletscher, wodurch dieser instabil wurde und von Tag zu Tag schneller zu rutschen begann. Verstärkt wurde die Instabilität zusätzlich durch den enormen Gewichtsdruck auf das Eis. Wer schon mal ein Fahrrad aufgepumpt oder die Luft in einer leeren Spritze zusammengepresst hat weiss, dass sich Masse durch Druck erwärmt. Dafür braucht es beim viel dichteren Wasser bzw. Eis natürlich mehr als bei Luft. Dennoch war unvermeidlich, dass sich das Gletschereis unter den enormen Gesteinsmassen irgendwann zumindest teilweise verflüssigen musste, ganz unabhängig von weiteren meteorologischen Einflüssen.
Zum Zeitpunkt des Gletscherabbruchs am Nachmittag des 28. Mai zog mässiger Regen mit einer Schneefallgrenze von etwa 2500 m über die Westalpen:

Radarbild vom 28.05.2025 15:20 MESZ (Quelle: Zoom/Archiv plus, metradar.ch)
Die Intensität von ungefähr 2 Liter pro Quadratmeter, die zur Zeit des Abbruchs seit einer Stunde fielen, dürfte kaum der unmittelbare Auslöser gewesen sein – wobei man nie zu 100 % sicher sein kann, ob es nicht das Tröpfchen war, das das Fass zum Überlaufen bringt – jedenfalls wäre der Gletscher so oder so runtergekommen. Vielleicht liegt der Ursprung der ganzen Entwicklung in den Wochen zuvor:
Zur Zeit des Gletscherabbruchs war der Abfluss der Lonza an der hydrologischen Messstation Blatten (die verschüttet wurde, bevor sie einen Messwert von 15:30 MESZ übermitteln konnte) am unteren Rand der jahreszeitlichen Normwerte, was nach der monatelangen relativen Trockenheit nicht verwundert. Allerdings ist eine Abflussspitze Anfang Mai zu sehen: Hier kam Schmelzwasser aus der sehr warmen Witterung um den Monatswechsel den Fluss runter, zusätzlich gespeist von gewittrigen Niederschlägen am 3./4. Mai. Es darf spekuliert werden, ob das aussergewöhnliche Schneefallereignis vom 16./17. April mit 135 mm innerhalb von 48 Stunden in Blatten mit Schnee bis in die Niederungen und die nachfolgende Schneeschmelze zur Beschleunigung der Prozesse am Kleinen Nesthorn beigetragen haben, mehr aber auch nicht.
Unbestritten ist hingegen, dass die massive Erwärmung unseres Klimas, die in den höheren Berglagen noch ausgeprägter fortschreitet als in den Niederungen, die Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse stetig erhöht. Die Höhenlage des Kleinen Nesthorns ist besonders von Wechsel zwischen Frost und Auftauen betroffen. Auftauen von Permafrost, das Eindringen von Wasser in die Klüfte mit nachfolgender Frostsprengung, Instabilität durch Wegtauen von Gletschern – all dies trägt dazu bei, dass die Erosion der Alpen beschleunigt wird. Jedes Mal erwähnen zu müssen, dass ein Einzelereignis nicht als Beweis der Ursache Klimaerwärmung taugt, ist daher müssig. Es ist wie bei anderen extremen Wetterereignissen: Es ist die Zunahme der Schlagzahl, welche uns vor Augen führt, was noch auf uns zukommt. Der aktuelle Trend, Wissenschaft und Forschung als Luxus abzutun und Institutionen wenn nicht gleich ganz zu zerschlagen, so doch zumindest massiv die Finanzen zu kürzen, ist unter diesen Umständen völlig absurd. Und ja, das ist keine Erfindung des orangen Brüllaffen im Weissen Haus, solche Bestrebungen finden auch hierzulande immer mehr Anhänger. Vielleicht werden sich angesichts des Ereignisses im Lötschental einige davon bewusst, wie viele Menschen ohne die Überwachung des Berges und des vorausschauenden Handelns der Wissenschaft ihr Leben verloren hätten.
Und genau diese Wissenschaft ist im Wallis weiterhin gefragt: Was passiert nun mit der aufgestauten Lonza? Grobe Schätzungen gehen von einem mindestens 50 m hohen Schuttkegel aus, wobei nicht klar ist, wie rasch das Wasser diesen erodieren und sich einen Weg nach unten suchen kann. Vorsorglich wurden schon mal die der Lonza am nahesten gelegenen Häuser der unterliegenden Dörfer evakuiert. Die nächsten Tage und Wochen werden somit noch viel Kopfzerbrechen bereiten und es ist zu hoffen, dass jetzt nicht noch ein Starkregenereignis folgt (statistisch nimmt die Wahrscheinlichkeit ab jetzt bis zum Herbst massiv zu). Kurzfristig wird jedoch die sehr warme Witterung der nächsten Tage mit Ansteigen der Nullgradgrenze gegen 4000 Meter den Zufluss von Schmelzwasser durch die Lonza das Hauptthema sein. Der See oberhalb des Dorfes wird rasch ansteigen, hier ein Standbild aus einem Drohnenvideo vom frühen Mittwochabend:
Rot eingerahmt ist die MeteoSchweiz-Station, die aktuell noch Daten liefert. Zur Zeit der Aufnahme betrug die Reserve auf den Wasserspiegel noch schätzungsweise 7 Meter laut Swisstopo. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die Station unter Wasser steht und wir dann auch auf diesem Auge bezüglich des Wetters im Lötschental blind sein werden (Nachtrag: Die Station übermittelt seit 12:00 MESZ, also nur eine knappe Stunde nach Veröffentlichung dieses Artikels, keine Daten mehr. Ein Bild dazu ist im aktualisierten Wetterstationsatlas zu sehen). Mit Wehmut blicke ich auf meine Besuche in den letzten Jahren zurück, denn diese bezaubernde Landschaft ist unwiederbringlich (gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung eines Menschen) verloren:
Hoffen wir das Beste für die Dörfer weiter unten im Tal, noch ein Worst-Case-Szenario würde wahrscheinlich sogar Auswirkungen bis ins Rhonetal haben. Den Menschen von Blatten, die auf einen Schlag alles verloren haben, wünsche ich von ganzem Herzen viel Kraft!
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Microwave am 1. Juni 2025 um 17:45 Uhr
Hoi Fabienne, danke für den Beitrag.
Das mit dem Schmelzen vom Eis unter Druck ist soweit ich verstanden habe eher weil bei hohem Druck der Schmelzpunkt sinkt vom Eis, aber Wärme sollte da eigentlich nicht erzeugt werden („Pressure melting point“). Das Ergebnis ist aber das gleiche.
Die Wärme beim Velopumpen und bei der Spritze kommt durch die „adiabatic compression“, welche du nur hast wenn du genug schnell bist, und glaubs nur bei Gasen.
Grüsse
Microwave
Mathias Kielholz am 5. Juni 2025 um 07:17 Uhr
Dein Beitrag ist mir im Sturmforum entgangen. Einmal mehr – besten Dank für deine wohltuenden Hintergrundinformationen mit so viel Fachwissen, Erfahrung und Herzblut!
Diese meteorologischen Facetten kamen in der sonst grosszügigen NZZ-Berichterstattung (sogar inkl. Tabuthema Klimawandel) eher zu kurz.
Genau das ging mir auch durch den Kopf: was wäre, wenn wir die Wissenschaft und diese vorausschauenden Köpfe nicht mehr hätten?
Und wie wichtig Worst-Case-Szenarien sind. Wie schnell wird man da zum Alarmist und Partykiller verunglimpft in unserer Wohlfühlgesellschaft.
Gruss
Mathias
P.S. @Microwave: der Druck bestimmt den Schmelzpunkt. Soll das Eis aber schmelzen, wird dafür Energie = Wärme von aussen benötigt. Bei der Velopumpe sorgst du für diese. Je schneller du pumpst, desto weniger Wärme kann im Prozess entweichen (adiabatisch). Im Unterschied zu oben bleibt der Aggregatzustand gasförmig.